Die Bischofbande

Leseprobe Jessi

  1. Kapitel

 

Juni 1977

Lächelnd musterte Michael Glasner die sechs kleinen Kinder, die vor ihm standen.

Er spürte die Freude der Kleinen darüber, dass sie nun die Bandentradition weiterführen durften.

»Setzt euch doch!«, begann er nach kurzem Zögern. Natürlich hatte er sich in den letzten Stunden Gedanken darüber gemacht, wie er die neue Generation einweisen würde, doch nun stand er hier und seine sorgfältig ausgearbeitete Rede war ihm entfallen.

»Wisst ihr schon, wer Anführer werden soll?«, fragte er, nachdem jeder einen Platz am Tisch eingenommen hatte.

»Nein«, schellte ihm die Antwort von allen entgegen.

»Na gut, das könnt ihr ja klären, wenn ich weg bin.« Michael kratzte sich kurz am Kopf. Was Wolf in diesem Moment wohl den neuen Willems erzählte? Schnell fokussierte er seine Gedanken wieder auf die aktuelle Aufgabe.

Er ging zum Schrank und holte zwei Bücher hervor.

Diese legte er dann behutsam auf den Tisch.

»Das sind die Bücher der Bischofbande. Behandelt sie immer wie ein Heiligtum. Hier im Bischofbuch steht alles Wichtige über die Bande und in der Chronik dürft ihr selbst euren Bandeneintritt, gute Streiche und die Weitergabe notieren. Es wäre gut, wenn ihr möglichst ordentlich und ohne Fehler schreibt.«

»Na, da bin ich raus«, bemerkte Christoph breit grinsend.

»Das Lager ist soweit in einem guten Zustand. Dennoch müsst ihr ab und zu Reparaturen durchführen, Bretter austauschen oder das Dach flicken, wenn Wasser reintropft. Wenn ihr etwas nicht könnt, fragt eure Eltern. Die helfen euch bestimmt.«

Michael schlug im Bischofbuch die Bandengesetze auf. »Es ist wichtig, dass ihr die traditionelle Feindschaft mit den Willems weiterführt. Wie ihr das Aufeinandertreffen mit denen gestaltet, ist eure Sache. Ich bitte euch nur, es nicht zu übertreiben. Es gibt klare Grenzen, die es nicht zu überschreiten gilt. Wir haben viele Konflikte durch Tischtennismatche klären können. Gibt es noch Fragen?«

Alle Kinder schüttelten schüchtern ihre Köpfe.

Michael griff in seine Jackentasche und legte die Lagerschlüssel auf den Tisch.

»Falls der gewählte Anführer doch noch Fragen haben sollte, kann er sich jederzeit an mich wenden. Ich wünsche euch alles Gute und viel Spaß als Bischofbande.«

Der ehemalige Anführer ließ nochmal einen letzten Blick durch das Lager gleiten, wandte sich dann zur Tür und verließ die Laube.

Erwartungsvoll beobachtete Jessica Bischof die anderen fünf Kinder. Charlotta Peters, ihre beste Freundin und Katja Breuer kannte sie ja schon, doch die Jungen waren ihr noch immer sehr fremd.

Natürlich waren sie in der gleichen Klasse, aber sie gab sich nur mit den Mädchen ab.

Da waren noch Christoph Arens, Patrick Thomas und Steffen Hintz.

»Wir müssen jetzt einen Anführer wählen«, bemerkte Charlie unsicher und setzte sich an den großen Tisch. Scheu folgten ihr die anderen Kinder.

»Also ich bin dafür, dass Jessica Anführerin wird, schließlich hat ihr Vorfahre die Bande gegründet«, sagte Katja nach einigem Zögern.

»Ich?« Verlegen errötete Jessica. »Nein, das kann ich nicht. Ich will nicht Anführer werden.«

»Wer würde es denn freiwillig machen?«, fragte Christoph.

Nur Steffen meldete sich.

»Du willst Anführer werden?« Freundschaftlich stieß Patrick seinen Tischnachbarn an. »Das bekommst du sicher gut hin.«

»Also ich habe auch nichts dagegen«, bemerkte Christoph. »Wählen wir Steffen?«

Alle nickten, und so wurde Steffen Hintz der neue Anführer der Bischofbande.

»Schaut mal, die knutschen da draußen«, rief Patrick, der von seinem Stuhl aus den besten Blick aus dem Fenster hatte, plötzlich.

Die Bischofbande lief aus dem Lager und beobachtete erst verwundert, dann lachend den ehemaligen Anführer der gerade ziemlich leidenschaftlich ein Mädchen küsste.

»Wie im Film«, fand Charlotta seufzend.

»Das ist die Lissi Neumann«, flüsterte Jessica ihren Freunden zu. »Sie war bei den Willems.«

Lissi und Michael hatten das Kichern der Kleinen gehört. Schnell trennten sich ihre Münder voneinander, dann liefen sie Hand in Hand in den Wald hinein.

»Bäh, das passiert mir garantiert nie.« Steffen schüttelte sich kurz. »Wie kann man sich als Bischof in eine Willem verknallen?«

Ratlos hoben alle die Schultern. Dann gingen sie gemeinsam zurück in das Lager, wo Steffen dann seinen ersten Eintrag in die Chronik der Bischofbande hineinschrieb.

 

Auf dem Heimweg musterte Charlie Jessica von der Seite. »Ist dir klar, dass du hättest Anführerin werden können? Diese Chance bekommst du nie wieder. Weshalb hast du dich nicht getraut?«

»Ich will nicht diese Verantwortung tragen. Wer weiß, wen die Willems wählen?«

»Patricks Schwester ist bei denen. Ob die beiden sich auch zu Hause streiten werden? Dumme Frage! Sie streiten sich, seit ich sie kenne. Wahrscheinlich wird sich bei ihnen nicht viel ändern.«

»Ja, die armen Eltern.«

»Da sind sie!«, hörten die beiden Mädchen plötzlich jemanden rufen, und in Sekundenschnelle waren sie von den Willems umringt.

»Wer ist euer Anführer?«, herrschte Justin Brehm Jessica herablassend an.

Verängstigt starrte Jessica ihn an, brachte aber kein Wort hervor.

Wie immer war er armselig gekleidet, seine dunklen Haare waren zu lang, die zerkratzten Schuhe ungeputzt. Niemals lächelnd blickte er ständig teilnahmslos vor sich hin und doch schienen ihn die Willems als Anführer gewählt zu haben.

Vielleicht lag es an dieser seltsam melancholischen Stimmung, die er ausstrahlte und die die anderen Kinder faszinierte? Mitleid war es sicher nicht.

Es war einfach so, dass er trotz seiner ärmlichen Erscheinung sehr Respekt einflößend war.

Alles in allem war er der ideale Anführer.

»Hey Bischof, hat es dir die Sprache verschlagen?«, rief Justin nun hochmütig.

»Steffen ist unserer Anführer«, antwortete Charlotta ebenso hochmütig, ergriff schnell Jessicas Hand und zog sie von den Willems fort.

»Mensch Jessi, was war gerade mit dir los? Weshalb hast du nichts gesagt?«, knurrte sie dabei böse.

»Sie haben Brehm gewählt.« Zögernd wandte sich Jessica noch einmal kurz zu den lachenden Willems um. »Ich habe Angst vor ihm, er ist immer so seltsam.«

»Das musst du dir nun aber schnell abgewöhnen! Als echte Bischof wirst du von nun an …«

»Ein Angriffsziel sein«, beendete Jessi leise Charlies Satz.

 

»Sie haben Justin Brehm gewählt«, war das Erste, was Jessica am nächsten Morgen in der Schule zu Steffen sagte.

»Ihn? Verdammt, das hatte ich befürchtet. Er wird kein leichter Gegner werden.«

Jessica zustimmend, drehte er sich zu dem neuen Willemsanführer um. Bewegungslos saß er in seiner Schulbank und starrte mit seinen bernsteinfarbenen Augen zur Tafel.

Solange Jessica sich erinnern konnte, hatte sie Angst vor ihm gehabt. Er war so anders als die anderen Kinder und dann besaß er diese verwirrend hellbraunen Augen, die sich nun auf sie richteten.

Ohne das Gesicht zu verziehen, blickte er sie an, ganz so, als würde er ihre Gedanken lesen können.

Erschrocken zuckte sie zusammen und wandte sich von ihm ab.

»Ob Steffen gegen ihn ankommen wird?«, flüsterte sie Charlie ins Ohr.

»Na, das hoffe ich doch«, antwortete Charlie. »Bald wird es zur ersten Auseinandersetzung kommen, dann werden wir es sehen.«

 

Am späten Nachmittag trafen die beiden Banden am See das erste Mal aufeinander.

Nervös betrachtete Jessica ihre neuen Feinde, Robert Tillner, Tina Thomas, Dirk Förster, Susan Henke und Stephan Gilgenbach.

Mit den meisten hatte sie schon zusammen im Sandkasten gespielt, und Tina hatte sie eigentlich immer besonders gemocht.

»Kein Wunder, dass sie dich gewählt haben«, sagte Justin ohne jegliche Regung im Gesicht. »Der Rest deiner Bande ist nur ein jämmerlicher Haufen.«

»Dasselbe könnte ich auch über dich sagen.« Spöttisch verzog Steffen seinen Mund. Ihm war es egal, dass Brehm nie lachte und immer versuchte, einschüchternd zu wirken. Das war doch alles nur Fassade.

Nur Sekunden später fielen die beiden Anführer übereinander her.

»Steffen macht sich gut«, bemerkte Christoph und Charlie nickte zustimmend.

Auch Jessica beobachtete interessiert die beiden kämpfenden Jungen.

Justin war verdammt gut. Es war, als würde er um sein Leben kämpfen, doch Steffen wehrte jeden Faustschlag gekonnt ab. Dann war plötzlich alles vorbei.

Steffens Hände und sein Gesicht waren voller Kratzer, und Justin wischte mit einem Ärmel über seine blutende Nase.

»Oh nein«, hörte Jessica ihn tonlos flüstern, während sie seine abgeknabberten Fingernägel betrachtete. »Das fehlt mir gerade noch.«

Doch schon ein paar Sekunden später rief er mit selbstsicherer Miene seine Bande zusammen und verschwand mit ihnen im Wald.

»Hey, Steffen, dem hast du es aber gezeigt!«, rief Katja begeistert.

»War es sehr schwer?«, fragte Jessica bewundernd.

»Es geht«, erwiderte Steffen strahlend. »Mit etwas Übung schaffe ich ihn locker.«

Die Gestalt, die am nächsten Tag in der Schule erschien, wirkte trauriger als sonst.

Seine Oberlippe war aufgeplatzt und ein großer blauer Fleck zog sich über seine rechte Wange.

»War Steffen das?«, fragte Patrick verwundert.

»Er sieht heute ramponierter aus als gestern Nachmittag«, meinte auch Christoph.

»Ich weiß nicht, schon möglich«, gab Steffen zurück. »Aber eigentlich blutete ja nur seine Nase.«

Neugierig drehte sich Jessica, die schon an ihrem Tisch saß, zu Justin um.

Er saß da wie immer, doch seine ganze Haltung verriet einen großen Zorn, der ihr Mitleid erweckte.

Er sah so einsam und verlassen aus.

Sein Blick fiel auf sie, seine bernsteinfarbenen Augen verengten sich und sein Gesicht verzog sich hasserfüllt.

Wieder einmal erschrak sie heftig und senkte schnell ihren Kopf.

 

Nach der Schule half sie ihrer Mutter beim Lebensmitteleinkauf.

Nur schnell vorbei, dachte Jessica und schielte kurz zu dem alten, halb verfallenen Haus in der Schäferstraße. Der Rasen davor war verwildert, die Farbe der Fassade abgebröckelt und in nur wenigen Fenstern hingen vergilbte Gardinen.

»Sieh mal, dort vorn ist Tante Ruth. Hallo Ruth!«, rief ihre Mutter fröhlich und winkte ihre Schwester zu sich.

»Oh, Mama, können wir nicht weitergehen?«, murmelte Jessica, während sie ängstlich zu dem alten Haus blickte.

»Weshalb?« Lächelnd umarmte Frau Bischof ihre Schwester. »Ruth, was machst du denn hier? Ich dachte, dass du noch in Berlin bist?«

»Oh, Mutter geht es wieder besser. Es war nicht nötig, dass ich dort noch länger bleibe.«

Verdammt, dieses Gespräch würde sich noch eine Weile hinziehen. Seufzend blickte Jessica wieder zu dem alten Haus.

Dort wohnte Justin Brehm mit seinem ständig betrunkenen Vater. Würde sie dort wohnen müssen, wäre sie sicher auch so missmutig. Zu allem Unglück sah sie, wie Justin eins der verschmutzten Fenster öffnete. Schnell huschte sie hinter ihre Mutter und hoffte, dass er sie nicht gesehen hatte.

Justin zog die alte Gardine zurecht und beobachtete dabei seine Feindin Jessica Bischof. Ah, sie hatte ihn gesehen und versuchte nun, sich vor ihm zu verstecken. Das war ja wieder mal typisch. Selbst für ein Mädchen war sie viel zu ängstlich und es war fast schon zu einfach, sie einzuschüchtern.

Er musste sie nur düster anschauen und schon war sie wie ein Kaninchen auf der Flucht.

Wenn er ein Bischof wäre, würde er ganz anders auftreten … aber nein, er musste ja leider in diese, seine Familie hineingeboren werden.

Traurig sah er sich in seinem schäbigen und lieblos eingerichteten Kinderzimmer um. Selbst die Armut würde er ohne Probleme hinnehmen, wenn nur seine Mutter wiederkommen oder sein Vater keinen Alkohol mehr trinken würde.

 

»Jetzt hört endlich auf, mit mir zu diskutieren!«, rief Frau Thomas eine Woche später verzweifelt. »Ihr feiert euren Geburtstag zusammen! Wisst ihr eigentlich, wie sehr mich eure Banden nerven?«

»Wir haben dich gewarnt.« Patrick warf Tina noch einen anklagenden Blick zu und lief dann zur Haustür, an der eben die ersten Gäste geklingelt hatten.

»Hey Patrick!«, rief Charlie fröhlich. »Ist schon jemand da?«

»Alles Gute«, sagte Jessica lächelnd.

»Nein, ihr seid die Ersten«, antwortete Patrick. »Geht schon mal ins Wohnzimmer!«

Aus den Augenwinkeln sah er Justin den Weg zum Haus kommen. Schnell zog er die Mädchen in den Flur und warf vor Justins Nase die Tür zu.

»Sehr witzig«, knurrte dieser erbost und klingelte kurz.

Nach ein paar Sekunden öffnete Tina ihm. »Hallo Justin. Du bist hier der erste von den Willems. Geh doch schon mal ins Wohnzimmer!«

»Hallo Tina, ich wünsche dir alles Gute zum Geburtstag.« Langsam schlenderte er zum Wohnzimmer, ließ sich gegenüber der Bischof in einen Sessel fallen und musterte sie eingehend. Wie sehr er sie doch hasste! Dieses Mädchen symbolisierte alles, was er verabscheute und ersehnte, eine liebevolle Familie, ein behütetes Leben … Nein, sie war die Bischof, das war das allerschlimmste.

Sie war sehr hübsch mit ihren langen dunkelblonden Haaren, den graugrünen Augen, der perfekten Nase und den schön geschwungenen Lippen. Wenn er sich dagegen sah …

Er hatte sich nicht mal ein Geschenk für Tina leisten können. Zum Glück verstand sie das.

»Was starrst du mich so an?«, fauchte er sie zornig an.

Die Augen vor Entsetzen aufgerissen, fuhr Jessica hoch und lief zu dem Sessel, auf dem Charlotta saß.

»Ich will hier weg«, flüsterte sie leise in ihr Ohr.

»Wir dürfen keine Schwäche zeigen«, erwiderte Charlie ebenso leise.

»Du hast recht«, murmelte Jessica und kehrte zum Sofa zurück. Warum kam Steffen nicht endlich, und wo blieben die anderen?

»Was ist mit dir los?«, fragte Justin spöttisch. »Deine Vorfahren würden sich im Grabe umdrehen, wenn sie dich Heulsuse sehen könnten.«

»Lass sie in Ruhe Brehm, sie ist dir nicht gewachsen!«, fauchte Charlie und richtete sich auf. »Das müsste sogar dir zu schäbig sein.«

Sie ließ ihren Blick langsam über ihn gleiten und ihre Miene spiegelte deutlich wieder, wie armselig sie seine Gestalt fand.

Auch Jessica musterte ihn. Sein dunkles, welliges Haar war wieder zu lang, das Shirt nicht sauber, die Hosen nur schlecht an den Knien geflickt und auch die Schuhe hatten dringend eine Reparatur nötig.

»Was weißt du denn, Peters?«, erwiderte Justin hasserfüllt. »Die Bischof ist mehr als schwach.«

»Vielleicht hat sie keine Führungsqualitäten«, gab Charlie zu. »Dennoch besitzt sie etwas, was du nie haben wirst.«

»Und das wäre?«

»Wenn du zu blind bist, um das zu sehen, kann ich dir auch nicht helfen. Jessi ist etwas ganz Besonderes und viel zu gut für dich.«

Errötend wich Jessica Justins prüfendem Blick aus. Liebend gerne hätte sie etwas sagen und Justins Anfeindungen etwas entgegensetzen wollen, doch sie konnte es nicht. Wie sie ihre Sensibilität … oder war es doch Feigheit, verabscheute.

Voller Panik sah sie, wie Justin auf sie zukam und direkt vor ihr stehen blieb.

»Was soll an dir schon Besonderes sein?«, fragte er mit gefährlich ruhiger Stimme. »Du bist der größte Feigling, den ich kenne.«

Steffen, wo bist du, fragte sich Jessica.

Krank vor Entsetzen schloss sie ihre Augen. Vielleicht würde er ja verschwinden, wenn sie nur fest daran glaubte?

Es war so einfach, Jessica Bischof in die Defensive zu bringen. Sie besaß kein bisschen Mumm in den Knochen.

Spöttisch stieß er mit einer Hand gegen ihre Schulter. »Du bist eine Schande für deine Bande.«

Sie war wirklich keine Herausforderung.

Aus den Augenwinkeln sah er, wie ihre Freundin ankam und ihn wegschubsen wollte.

Justin packte sie an ihrem rechten Handgelenk und schleuderte sie von sich. Charlie stolperte ein paar Schritte zurück und blickte ihn vorwurfsvoll an. »Warte nur, bis Steffen kommt.«

»Meinst du, ich habe Angst vor ihm?« Sein wütender Blick richtete sich nun wieder auf Jessica. »Hey Feigling, sag doch auch mal ein Wort. Aber nicht mal das kannst du!«

Verängstigt wich Jessica vor ihm zurück. Sie hasste sich für ihre Mutlosigkeit, dennoch war sie nicht in der Lage, etwas dagegen zu unternehmen.

Tränen traten in ihre Augen und liefen unaufhaltsam über ihre Wangen.

Erleichtert registrierte sie, dass die Zimmertür sich öffnete und die restlichen Bandenmitglieder lachend und laut durcheinanderredend das Zimmer betrat.

Schnell wischte sie über ihre Augen und lief zu Steffen.

»Da bist du ja endlich«, seufzte sie erleichtert und klammerte sich Hilfe suchend an seinen Arm.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte der Bischofanführer besorgt und blickte, die Stirn runzelnd, zu Justin Brehm, der nun umringt von seiner Bande, nur wenige Meter entfernt stand.

»Nein, Brehm ist fast auf Jessi losgegangen«, fauchte Charlie wütend. »So schlimm habe ich ihn noch nie erlebt.« Kurz erzählte sie, was geschehen war.

»Das wird er büßen!«, schwor Steffen und drückte Jessica kurz an sich. »Begib dich nie wieder allein in seine Nähe!«

»Nein, das werde ich auf keinen Fall.«

Wenig später saßen die beiden Banden an einer langen, festlich gedeckten Tafel, aßen Kuchen und tranken Kakao.

»Sieh dir nur Brehm an!«, flüsterte Charlie noch immer erbost. »Er sitzt da wie ein König und lässt sich von seiner Bande feiern.«

»Ich will nicht zu ihm sehen«, erwiderte Jessica leise. »Er ist so schrecklich.«

Dennoch glitten ihre Augen zu ihm. Auch Justin sah in ihre Richtung, und ihre Blicke trafen sich kurz.

Erschrocken rückte sie näher zu dem neben ihr sitzenden Steffen und berührte sanft seinen Arm. »Er schaut her. Ich habe keine Ahnung, wie ich reagieren soll.«

»Du machst gar nichts«, flüsterte Steffen und blickte zu Justin, der Jessica noch immer grimmig anstarrte.

Verärgert nahm er seine mit einem Stück Kuchen beladene Gabel, hielt sie wie ein Katapult und schleuderte das cremige Stück in Justins Gesicht.

Überrascht und nicht wenig entsetzt warteten nun alle Bandenmitglieder auf eine Reaktion von Justin.

Der Willemsanführer nahm ebenfalls ein Stück Kuchen und warf es voller Wucht in Steffens Gesicht.

»Tortenschlacht!«, rief Charlie begeistert und tatsächlich flogen nur wenige Sekunden später die ersten Kuchenstücke durch das Zimmer.

 

  1. Kapitel

 

Eine Woche später begannen die Sommerferien.

Das wurde am Samstagabend natürlich ausgiebig am See gefeiert.

»Kommst du mit ins Wasser?«, fragte Charlie.

»Ja, auf alle Fälle«, antwortete Jessica und zog ihr Kleid aus. In weiser Voraussicht hatte sie schon zu Hause ihren Badeanzug angezogen. Kurz überlegte sie, ob es besser wäre, die Haare zu einem Dutt zu binden, aber schnell verwarf sie den Gedanken. Es war jetzt gegen einundzwanzig Uhr, doch es mussten noch mindestens achtundzwanzig Grad sein. Die nassen Haare würden also schnell trocknen.

Zusammen mit Charlie lief sie in den See, bis das angenehm kühle Wasser an ihre Oberschenkel reichte. Dann tauchte sie schnell unter. Sekunden später kam sie wieder hoch und strich sich die langen Haare nach hinten. Plötzlich bemerkte sie, dass viele Jungen vom Strand aus zu ihr blickten.

»Oh, Mist«, entfuhr es ihr. Schnell überprüfte sie den Sitz ihres Badeanzugs. Er saß aber an allen Stellen richtig.

»Was gaffen die denn so?«, fragte sie Charlie, die sich neben ihr auf dem Rücken im Wasser gleiten ließ. Charlotta lachte kurz auf. »Ich denke, dass sie dich hübsch finden.«

Verwundert schielte Jessica noch mal zum Strand. Selbst Brehm saß auf einem Baumstamm, der an das Wasser gerollt worden war, und blickte zu ihr.

»Lass uns etwas schwimmen. Diese Aufmerksamkeit ist mir peinlich«, schlug Jessica vor und glitt zurück in das Wasser.

Justin saß zusammen mit Dirk und Stephan auf einem Baumstamm. Mit den Augen verfolgten sie Jessica, die sich soeben die langen, nassen Haare nach hinten strich.

»Von diesem Bild ein Poster«, bemerkte Stephan. »Das würde ich mir an die Wand hängen.«

»Ja, sicher«, erwiderte Dirk lachend. »Ich kann mir schon vorstellen, in welchen Situationen du es näher betrachten würdest.«

Erbost sprang Justin auf und verteilte an die beiden Willemsmitglieder einen festen Klapps auf den Hinterkopf.

»Ich will nicht, dass ihr so über die Bischof sprecht«, sagte er dabei zornig.

»Schon klar, wir sollen sie hassen«, erwiderte Dirk, während er sich über den schmerzenden Hinterkopf strich. »Aber du musst schon zugeben, dass sie ziemlich heiß ist.« Stephan nickte zustimmend.

»Ich vergesse mich gleich!«, fuhr Justin die beiden an. »Hier gibt es genügend Mädchen, die ihr heiß finden könnt.«

»Ist ja schon gut«, sagte Stephan ruhig. »Komm mal wieder runter.«

Er zog Dirk mit sich zurück zur Party.

Kopfschüttelnd ließ sich Justin wieder auf dem Baumstamm nieder und suchte mit den Augen nach Jessica.

Verdammt, dieses Bild, wie sie mit den nassen Haaren im Wasser stand, würde er so schnell nicht vergessen können.

Was würde er dafür geben, wenn sie ihm gehören würde! Er würde sie nie wieder gehen lassen und irgendwann heiraten.

»Oh, Gott!«, flüsterte er erschüttert und verbarg kurz das Gesicht in den Händen. Hatte er gerade wirklich darüber nachgedacht, die Bischof zu heiraten? Dieses Mädchen raubte ihm echt den Verstand. Kurz blickte er zur lauten Party, die voll am Laufen war.

Er wusste, dass es dort kein Mädchen gab, dass ihn irgendwie interessierte. Es gab nur die Eine für ihn.

 

Als Jessica und Charlotta aus dem Wasser stiegen, kam Steffen den beiden Mädchen entgegen und reichte ihnen ihre Handtücher.

»Hey Jessi, du hättest mir Bescheid sagen sollen, dann wäre ich mit schwimmen gekommen«, sagte er an seine Freundin gewandt.

»Du hast gerade mit deinen Vereinskameraden gesprochen. Da wollte ich nicht stören«, erwiderte Jessica lächelnd.

»Ach, das hättest du ruhig machen können«, meinte Steffen und zog sie an sich. »Du siehst wirklich toll aus in diesem Badeanzug.«

»Danke«, murmelte Jessica und schon fühlte sie seine Lippen auf ihrem Mund.

Wahnsinn, jetzt war sie mit ihm schon über eine Woche zusammen.

Steffen war aufmerksam und lieb zu ihr. Die Beziehung verlief genauso, wie sie es sich erträumt hatte. Aber irgendwie …

 

Justin saß am niedergebrannten Lagerfeuer und blickte in die noch immer glimmende Glut. Hin und wieder sah er zu dem Bischofanführer und seiner Freundin und jedes Mal wurde er wütend, wenn er die beiden zusammen sah. Tina setzte sich neben ihm und legte ihren Arm auf seine Schulter.

»Justin, warum sitzt du hier allein? Komm doch rüber und spiele mit uns Flaschendrehen.«

»Nein, danke«, murmelte Justin, während sein Blick wieder Jessica suchte.

Tina musterte ihn von der Seite und folgte dem Ziel seiner Augen.

Steffen küsste gerade wieder seine Freundin, doch Jessica befreite sich lachend von ihm und lief zu ihrer Freundin Charlie.

»Ach, Justin«, flüsterte sie traurig, während sie Steffen betrachtete. »Das bringt nichts. Sie findet dich seltsam, sagte sie mal.«

Oh Mist, durchfuhr es Tina erschrocken, das durfte ich doch nicht ausplaudern. Halt, das hat Jessica gesagt, bevor wir unseren Yogapakt geschlossen hatten.

»Seltsam?« Justin fuhr mit einer Hand durch sein dunkles Haar. »Das wundert mich nicht, schließlich habe ich auch alles dafür getan, dass man mich so wahrnimmt.«

»Such dir ein anderes Mädchen!«, schlug Tina vor.

Justin sah wieder in die Glut des fast erloschenen Lagerfeuers.

»Das will ich nicht. Keine Ahnung, was mit mir los ist«, flüsterte er.

Tina lachte bitter auf. »Du bist verknallt. Mir geht es doch genauso. Was meinst du, warum ich mich so oft mit Jungen verabrede? Ich will mich nur ablenken.«

»Und, funktioniert es?«

»Ein bisschen. Nervig wird es nur, wenn die eine feste Beziehung wollen.«

Justin lächelte Tina amüsiert an. »Ich kann die Jungen verstehen, schließlich bist du ein tolles Mädchen. In wen bist du verliebt? Wer ist so dämlich und will dich nicht haben?«

Tina errötete verlegen. »Das möchte ich nicht sagen. Es bringt eh nichts.«

Justin nickte bedächtig und erhob sich. »Ich geh jetzt nach Hause. Löschst du die Glut gleich?«

»Klar.« Tina stand ebenfalls auf. »Bis morgen!«

»Bis morgen.«

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