- Kapitel
- Juli 1968
Verärgert starrte Jane auf die noch immer geschlossenen Umzugskartons, die sich ihr gegenüber an der Zimmerwand stapelten.
Noch gestern war ihr Leben schön und voller Energie gewesen, doch nun kam sie sich wie lebendig begraben vor. Weshalb hatten ihre Eltern nicht bis zu ihrem Schulabschluss mit dem Umzug nach Weißwald warten können? Oh, wie sie sich nach Hamburg sehnte!
Ihre Mutter hatte gesagt, dass sie den Stadtstress nicht mehr vertrage.
So ein Blödsinn, dachte Jane. Es hätte doch gereicht, in einen Außenbezirk zu ziehen. Leider besaßen ihre Schwester Viola und deren Ehemann Albert einen großen Gutshof samt Gestüt. Sie hatten der Familie angeboten, bei ihnen zu wohnen.
Sie war so wütend auf ihre Eltern! Wie konnten sie nur so einfach über ihren Kopf hinweg entscheiden, ohne sie zu fragen?
Wenigstens wollte ihr Vater, der Brite war, nicht nach England zurück. Das hätte ihr gerade noch gefehlt.
Jane vermisste schon jetzt ihre Freunde, besonders ihre beste Freundin Katrin. Noch hatte sie keine Vorstellung davon, wie die jungen Leute in einem Dorf tickten. Vermutlich waren alle spießig und hörten sich brav die neuesten Schlager an. Sicher würde sie hier mit ihrer Hippiekleidung wie ein bunter Hund auffallen.
Soweit sie während der Autofahrt sehen konnte, war Weißwald eine relativ große Gemeinde. Lange fuhren sie auf der Landstraße an dichten Wäldern vorbei und kurz vor dem Dorf hatte sie in der Ferne einen See erspähen können.
Onkel Albert besaß eine Pferdezucht, und Janes Vater hatte es sich in den Kopf gesetzt, ins Geschäft einzusteigen. Tante Viola sah Janes Mutter ziemlich ähnlich. Sie war ebenfalls hellblond und groß. Onkel Albert hingegen war rothaarig mit vielen kleinen Locken und überall im Gesicht und auf den Armen hatte er eine Menge Sommersprossen. Alles an ihm schien rot zu sein. Aber am besten gefiel es Jane, dass er immerzu lachte.
Ihr Cousine Alice hatte sie bis jetzt noch nicht zu Gesicht bekommen. Sie kannte sie nur von alten Fotos.
Jane hoffte, dass sie nicht allzu spießig war, schließlich würden sie von nun an viel Zeit miteinander verbringen müssen.
Am späten Nachmittag betrat Alice, nachdem sie kurz angeklopft hatte, das Zimmer ihrer Cousine. Auch sie hatte sich Gedanken darüber gemacht, wie wohl die neuen Hausbewohner aus Hamburg sein würden. Inständig hoffte sie, dass Jane nett war, und man gut mit ihr auskommen konnte.
Das Erste, was sie vernahm, war ein älterer Song von den Beatles[1] und die Stimme ihrer Verwandten, die laut mitsang.
Jane erblickte ihre Cousine, lief zum Schallplattenspieler und drehte die Musik leiser. Alice hatte das Aussehen und anscheinend auch das sonnige Gemüt ihres Vaters geerbt. Sie mochte Alices lange, rot gelockte Haare, die vielen Sommersprossen und die dunkelbraunen Augen sofort.
»Hallo Alice.«
»Du bist Jane Wellway, die Engländerin?«, erwiderte Alice strahlend. »Ich war so gespannt darauf, dich endlich einmal kennenzulernen. Oh, Jane, man sieht dir an, dass du aus der Großstadt kommst. Du siehst aus wie die Hippie-Modelle aus den Magazinen. Du hast ein unglaublich hübsches Gesicht. Ich wünschte, ich hätte so schöne langen blonden Haare und deine hellen blauen Augen.«
»Englisch nur zur Hälfte. Und du bist Alice?«, unterbrach Jane sie verlegen, als die Cousine Luft holte. »Ich finde dich auch sehr hübsch. Die roten Locken sehen so schön wild aus.«
»Oh, man hört direkt, dass du aus dem Norden kommst«, rief Alice sogleich erstaunt. »Du betonst die Worte so anders.«
»Ich werde mich bemühen, hochdeutsch zu sprechen«, erwiderte Jane schmunzelnd.
Nachdem Alice die Schallplatten und Bücher ihrer Cousine neugierig inspiziert hatte, begann sie, von zwei Banden, den Bischofs und den Willems zu erzählen. Sie selbst gehörte zu der Bischofbande. Verwundert lauschte Jane ihren Worten. Laut Alice waren die Banden harmlos, keine Halbstarken[2], sondern nur ein Zeitvertreib für einige Kinder in Weißwald, die inzwischen zu Jugendlichen herangewachsen waren.
»Kinder, kommt ihr zum Abendessen?«, rief Janes Mutter laut vor der Tür, ohne hineinzuschauen.
»Woher weiß sie, dass ich bei dir bin?«, fragte Alice verwundert.
»Meine Mutter weiß alles«, antwortete Jane lachend. »Vor ihr kann man nichts verbergen.«
»Ha, genau wie meine Mutter«, rief Alice grinsend. »Na, dann lass uns mal ins Esszimmer gehen. Ich bin gespannt darauf, deine Eltern kennenzulernen.«
- Juli 1968
Als Jane am nächsten Morgen erwachte, wusste sie erst gar nicht, wo sie war, doch schnell kehrten ihre Erinnerungen zurück.
Als sie wenig später gerade dabei war, sich anzuziehen, rauschte Alice in ihr Zimmer.
»Guten Morgen Jane, gut geschlafen? Was hast du geträumt?«, fragte sie und grinste dabei wie ein Honigkuchenpferd.
»Moin[3]. Allerbest, un mien Droom blievt en Geheemnis[4]«, antwortete Jane und schminkte sich so, wie sie es in hippen Modezeitschriften gesehen hatte. »Oh, ich muss ja Hochdeutsch sprechen. Zeigst du mir das Gestüt?«
»Du willst doch nicht etwa so rausgehen?«
»Jo[5], stimmt was nicht?«
»Du wirst hier viele Blicke auf dich ziehen. Na, gehen wir erst einmal frühstücken. Mal sehen, ob meine Mutter der Schlag trifft.«
»Du meinst, ich sollte etwas weniger Farbe auftragen?«, fragte Jane, verblüfft über Alices Geschick, ihr Aussehen zu kritisieren und sie dennoch so zu akzeptieren, wie sie war.
Ohne zu antworten, grinste Alice ihre Cousine an.
Ihr zuliebe ging Jane komplett ungeschminkt hinunter in das Frühstückszimmer.
»Oh Jane, so bleek[6] habe ich dich ja lange nicht gesehen«, rief ihre Mutter erstaunt aus, als sie ihre Tochter durch die Tür kommen sah.
»Jo«, meinte Jane nur und wies zu Alice. »Du kannst dich bei ihr dafür bedanken.«
Eine Stunde später zeigte Alice ihrer Cousine das weitläufige Anwesen, zu dem das Gestüt, die Koppeln und viele Nebengebäude gehörten. Sie erzählte von der Geschichte des Gestüts und den vielen Modernisierungen, die in den letzten Jahren erfolgt waren. Schließlich standen sie vor einem langgezogenen Backsteingebäude.
»Das ist der größte von unseren Pferdeställen. Hier stehen unsere eigenen Pferde. Die anderen Ställe dienen als Pferdepension. Pferdebesitzer aus Weißwald und der Umgebung haben dort ihre Pferde untergestellt. Sie zahlen für die Boxen, das Futter, das Misten und den Weidegang. Das ist zwar eine Menge Arbeit, aber es bringt gutes Geld ein.«
»Und hier züchtet ihr Pferde?«
»Ja. Komm, ich zeige sie dir.« Gemeinsam betraten sie den Stall und Alice bemerkte, wie Jane die anwesenden Tiere bewundernd musterte.
»Wie wäre es, wenn ich dir das Reiten beibringen würde?«, schlug sie vor. »Es ist nicht schwer.«
»Meinetwegen«, entschied Jane spontan. »Ich habe allerdings das letzte Mal als Kind bei einer Kirmes auf einem Ponyrücken gesessen.«
»Ach, das ist nur eine Frage der Gewohnheit. Ich gebe dir Lisa. Sie ist sehr lieb und zutraulich.«
In Windeseile sattelte Alice eine schwarzweiß gescheckte Lusitano-Stute, half ihrer Cousine in den Sattel und erklärte ihr, auf was sie zu achten habe.
Unsicher blickte Jane auf die Zügel in ihrer Hand. Während sie überlegte, ob sie nicht doch besser absteigen sollte, ertönte plötzlich ein lauter Knall. Das Auto eines Mitarbeiters, der gerade das Gestüt verlassen wollte, hatte eine Fehlzündung. Lisa buckelte, stieg und ging durch. Voller Panik krallte sich Jane an der Mähne der Stute fest.
»Von wegen ruhig!«, schrie sie entsetzt, während sie Alice »Greif nach den Zügeln!«, rufen hörte.
»Haaaaalt, brrrr, stopp!«, kreischte Jane angsterfüllt, doch es half nichts.
Es war kaum eine Minute vergangen, aber ihr kam es wie Stunden vor, als plötzlich ein Pferd neben ihr auftauchte.
Der mutige Reiter griff nach Lisas Zügeln und hielt beide Pferde an.
Erleichtert fluchte Jane in der blumigsten Seemannssprache, bevor sie sich langsam aufrichtete.
»Dank ok[7]!«, sagte sie dann, sich auf ihre guten Manieren besinnend.
»Gern geschehen.« Ihr Retter lächelte sie fröhlich an. »Es war mir ein Vergnügen. Du bist Jane Wellway, Alices Cousine aus Hamburg?«
Er hat eine angenehme Stimme. Jane wendete ihren Kopf in seine Richtung und erstarrte. Erstaunt stellte sie fest, dass ein unglaublich hübscher Junge vor ihr stand. Er schien in ihrem Alter zu sein, hatte strahlende, von langen schwarzen Wimpern umrahmte dunkelblaue Augen, eine nahezu perfekte Nase und schön geschwungene Lippen. Am meisten gefiel ihr jedoch sein bis zu den Schultern reichendes, dunkelbraunes, gewelltes, jedoch etwas zerzaustes Haar. Im Gegensatz zu ihrer Jeans und dem bunten Batikshirt trug er ein rotes Poloshirt, mit Schmutz bespritzte schwarze Reithosen und Reitstiefel.
Galant half er ihr beim Absteigen und ein paar Sekunden sah es so aus, als wolle er sie nicht so schnell wieder loslassen.
»Das stimmt. Und mit wem habe ich die Ehre?«, fragte Jane schüchtern und mit schnell klopfenden Herzen, nachdem sie sich wieder etwas gefasst hatte.
»Ich heiße Christian Kaiser«, antwortete er und sein hübsches Gesicht überzog sich mit einer leichten Röte.
An diesen Namen erinnerte sie sich.
»Du bist der Anführer der Willemsbande!«
»Ah, Alice hat dir schon von uns erzählt. Man hört, dass du aus Hamburg kommst.«
»Ich bin dir so dankbar, dass du mich gerettet hast. Nur Sekunden später, und ich hätte mich nicht mehr halten können.«
»Du brauchst dich nicht bei mir zu bedanken. So einem schönen Mädchen würde ich stets wieder helfen.«
Jane spürte, wie scheinbar Tausende von Schmetterlingen in ihrem Magen Walzer zu tanzen begann.
Wie verzaubert berührte sie seine Wangen und küsste ihn sanft auf den Mund. Eigentlich sollte es nur ein kurzer freundschaftlicher Kuss sein, doch Christian hielt sie fest. Sie spürte, wie sein Mund sich öffnete. Automatisch folgte sie ihm und nur einen Moment später trafen sich ihre Zungen.
Das war das erste Mal, dass Jane so weit gegangen war.
Oh mein Gott, das ist mein erster richtiger Kuss, dachte sie glücklich. Nach mehreren Sekunden löste sie sich von Christian und beide starrten sich erstaunt an.
Plötzlich vernahm sie das Aufschlagen von Pferdehufen. Unwillig ließ sie ihren Retter los und trat einen Schritt zurück.
»Oh, verrückt, du bist umwerfend«, hörte sie ihn murmeln. »Ich muss dich unbedingt wiedersehen.«
»Ich dich auch«, erwiderte Jane errötend.
Ob Alice unsere Umarmung gesehen hat, fragte sie sich dann.
Ihre Cousine brachte vor den beiden ihr Pferd zum Stehen und glitt von dessen ungesatteltem Rücken.
»Jane, Gott sei Dank, dir ist nichts passiert. Ich hatte solche Angst um dich«, schluchzte sie dabei vollkommen aufgelöst.
»Christian hat mich gerettet«, erklärte Jane, während sie ihn bewundernd ansah. »Er ergriff einfach Lisas Zügel und hielt sie so an.«
»Danke«, meinte Alice nur kühl zu ihm. »Komm, Jane, der ist kein Umgang für dich. Lass uns Lisa nach Hause bringen.«
»Kein Umgang?« Überrascht musterte Jane noch immer ihren Retter, der über Alices Einschätzung ziemlich erbost schien.
Sagt sie das wegen den Banden? Ich meine, er sieht nicht gerade wie ein Halbstarker aus, dachte sie schmunzelnd. Dann wendete sie sich von ihm ab und folgte ihrer Cousine, die beide Pferde an den Zügeln hielt und schon vorgelaufen war.
»Ich warne dich, Alice«, hörte sie Christian nach wenigen Sekunden mit wütender Stimme rufen. »Zieh Jane nicht in die Banden mit rein!«
Alice blickte nur stur geradeaus und drehte sich nicht zu ihm um.
»Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?«, erkundigte sie sich dann mit besorgter Miene.
»Mir geht es gut. Der Schreck sitzt mir aber noch in den Knochen.« Seufzend drehte Jane sich erneut zu Christian um, der noch immer am selben Platz stand und den beiden Mädchen nachsah.
»Wat for een smuck Burs.[8] Er gefällt mir sogar noch besser als Roger Daltrey[9]. Hat er eine Freundin?«
»Wer ist Roger Daltrey?«, fragte Alice.
»Das ist der Sänger von The Who[10], der tollste Typ der Beatgeschichte, neben John Lennon[11] natürlich. Den kennst du nicht?«
»Ach so, du meinst den Blonden? Ich finde Roy Black[12] klasse. Kaiser ist doof und ich will nicht, dass du ihn magst.«
»Gefällt er dir nicht?«
»Auf keinen Fall! Ich kenne den Idioten schon, seit wir Kinder sind. Das reicht mir.«
Na, soll mir recht sein. Ich jedenfalls kann es kaum erwarten, ihn wiederzusehen. Wenn ich nur an ihn denke, schlägt mein Herz schneller – Christian Kaiser …
- Juli 1968
Gleich nach dem Frühstück sattelte Alice den Hengst Ares und ritt gemeinsam mit ihrer Cousine zum Bischoflager.
»Wir sind da«, sagte sie kaum zehn Minuten später mitten im Wald.
Die Mädchen stiegen ab.
»Willst du Ares nicht an einen Baum anbinden, oder so?«
»Nein, er sucht sich jetzt hier sein Futter. Keine Sorge, Ares bleibt in der Nähe.«
Dann musterte Jane enttäuscht das Bischoflager.
Vor ihr stand eine selbst zusammengeschusterte Laube aus Gartenzaunelementen und anderen Holzlatten, die man mehr oder weniger fachmännisch miteinander verbunden hatte. Selbst ein Glasfenster und eine dunkelgrün lackierte Tür hatten die Erbauer auftreiben und einsetzen können.
»Wow, es ist wohl sehr alt, oder?«
»Ja, ich weiß. Es ist kein Palast, aber für uns reichts.«
Neugierig betrat Jane nach Alice den kleinen Raum, und sofort richteten sich alle Augenpaare auf sie.
Als Erstes stellte Alice ihr alle Mitglieder vor: Jürgen Glasner, Anne Mathies, Richard Kierdorf und Ursula Hardt. Amüsiert nahm sie wahr, wie die Jungen Jane mit offenem Mund anstarrten.
»Hast du immer so eine Wirkung auf Jungen?«, raunte sie Jane schmunzelnd zu.
»Was meinst du?«, fragte Jane irritiert.
»Ach schon gut. Bis vor ein paar Monaten hatten wir einen Anführer. Hannes musste allerdings umziehen und nun fehlt das wichtigste Mitglied der Bande«, erklärte sie abschließend.
»Weshalb habt ihr keinen neuen Anführer gewählt?«, fragte Jane verwundert.
»Das hätten wir ja schon längst gemacht, aber das Problem ist, dass niemand von uns Anführer werden möchte«, erklärte Anne.
»Ah, ich verstehe. Der Boss schlägt sich mit den Willems rum«, schlussfolgerte Jane. Sie dachte an Christian, dem Anführer der Willems, und sofort spürte sie ihr Herz schneller schlagen.
»So ähnlich. Willst du in unsere Bande eintreten?«, fragte Ursula. Die restlichen Anwesenden nickten zustimmend.
»Dann hätten wir wenigstens wieder die komplette Anzahl an Mitgliedern.«
»Gern«, erwiderte Jane.
»W…willst du d…dich als Anführer versuchen?«, schlug Richard stotternd hochrot vor und zog damit die überraschten Blicke seiner Freunde auf sich.
»Na, von uns will es doch niemand machen«, rechtfertigte er sich schnell.
»Klar«, entschied Jane kurz entschlossen. »Ich glaube nicht, dass man sich immer schlagen muss. Ich denke, man kann Probleme auch anders lösen.«
»Da spricht das Blumenkind[13]!«, rief Jürgen lachend. »Die Willems werden staunen.«
Also, für so feige hätte ich meine Cousine und ihre Freunde nicht gehalten. Das muss definitiv geändert werden, beschloss die neue Anführerin der Bischofbande sofort.
Auf dem Heimweg saß Jane wieder hinter Alice auf dem Pferd und fragte sie über die Willems aus. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie wirklich so schlimm sein sollten, schließlich hatte Christian einen so netten Eindruck auf sie gemacht.
»Allein ist er manchmal zu ertragen und zu den Mädchen, die ihn interessieren ist er wohl auch sehr charmant. Aber das hast du ja schon festgestellt.« Alice grinste ihr über die Schulter zu. »Jane, man merkt, dass du noch nicht dem ganzen Trupp begegnet bist. Wenn du erst merkst, wie blöd Kaiser als Willemsanführer werden kann, magst du ihn sicher auch nicht mehr.«
Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, waren sie auch schon von vier Jungen und zwei Mädchen umringt.
»Das sind die Willems, oder?«, flüsterte Jane in Alices Ohr.
»Ja«, murmelte die Cousine und wirkte plötzlich gar nicht mehr so selbstsicher und lebhaft.
Christian trat zu ihnen und ergriff Ares´ Zügel. Dann schenkte er Jane, wie sie fand, ein unglaublich hübsches Lächeln.
»Hallo Jane, schön, dich wiederzusehen«, raunte er ihr leise zu.
»Moin«, erwiderte Jane. Sie bemühte sich, ihre Stimme kühl klingen zu lassen.
Wie er mich die ganze Zeit ansieht, dachte sie dabei entzückt.
»Alice, habt ihr endlich einen Anführer gewählt?«, richtete er dann das Wort an ihre Cousine. »Dieser Zustand zieht sich nun schon mehrere Monate hin. Das funktioniert so nicht. Wenn das so weitergehen soll, können wir die Banden auch gleich weitergeben.«
Alice stieß Jane unauffällig an.
»Ich bin der neue Anführer der Bischofbande«, sagte diese daraufhin betont langsam.
»Das verzeihe ich dir nie!«, fuhr Christian Alice an, doch dann richtete er wieder den Blick auf Jane. Er sah sehr enttäuscht aus. »Diese Idioten wählen jemanden, den sie nicht kennen? Die sind doch komplett durchgedreht. Was soll ich denn mit einem Mädchen als Bischofanführerin anfangen? Das geht nicht!«
»Hey, du Snöttbaart[14], es geht dich überhaupt nichts an, wen die Bischofbande zu ihrem Anführer wählt. Du hast deren Entscheidung zu akzeptieren und damit zu leben«, wies Jane ihn im strengen Ton zurecht.
Sprachlos schüttelte er den Kopf, dann sah er sie eindringlich an. »Jane, du machst einen großen Fehler. Tritt wieder aus der Bande aus, du hast doch gar keine Ahnung, was dich erwartet.«
»Danke für den Vorschlag, doch du kennst mich noch nicht. Was ich einmal begonnen habe, führe ich zu Ende. Ich bin ein ernst zu nehmender Gegner.«
Langsam kehrten nun auch Alices Lebensgeister zurück. Mutig entriss sie Christian die Zügel und ließ Ares antraben.
»Der gute Chris ist ja fast umgefallen, als du dich ihm offenbart hast«, rief sie lachend. »Ich glaube, er hatte andere Pläne mit dir.«
»Die Willems werden mich noch kennenlernen«, erwiderte Jane zuversichtlich.
Vierundzwanzig Jahre später.
»Nein, ich kann es nicht glauben!«, verblüfft starrte Jane Kaiser nun schon mehrere Minuten auf den Schwangerschaftstest, den sie in ihren zitternden Händen hielt.
Nun hatte auch der dritte Versuch ein positives Ergebnis gebracht.
Wie hatte das nur passieren können, sie hatten doch immer aufgepasst!
Entschlossen griff sie nach ihrer Jacke und dem Autoschlüssel, den sie vorher achtlos auf den Tisch geworfen hatte. Dann fuhr sie zu der Arztpraxis ihres Mannes.
»Es ist ja fast unmöglich, hier einen Parkplatz zu finden«, begrüßte sie eine halbe Stunde später die junge hübsche Sprechstundenhilfe mit einem aufgesetzten Lächeln. »Guten Tag, sagen Sie bitte meinem Mann, dass ich etwas äußerst Wichtiges mit ihm zu besprechen habe?«
»Sein Terminkalender ist eigentlich randvoll, aber ich werde mal schauen, was ich machen kann«, antwortete die junge Frau leicht errötend und verschwand schnell im Behandlungszimmer.
»Er wird ja wohl einen Moment für mich Zeit haben«, murmelte Jane aufgebracht.
»Sie können jetzt hereinkommen«, sagte die Sprechstundenhilfe nur wenige Augenblicke später verlegen und hielt Jane die Tür auf.
»Vielen Dank.« Betont selbstbewusst rauschte Jane an ihr vorbei und sank auf den Stuhl nieder, der auf der anderen Seite des Schreibtisches stand.
»Hallo Jane, was für eine Überraschung.« Christian schlug die vor ihm liegende Patientenakte zu und blickte seine Frau fragend an. »Du hast mich schon lange nicht mehr in der Praxis besucht. Das kann nur bedeuten, dass etwas Schlimmes passiert ist.«
Nervös griff Jane nach einem Stift und drehte ihn zwischen ihren Fingern.
»Ich bin schwanger«, platzte es schließlich aus ihr heraus.
»Was?« Christian sprang überrascht auf. »Wie konnte das …?«
»Es muss nach dem Theaterbesuch passiert sein. Das war das letzte Mal, als wir …«
Jane fuhr mit einer Hand durch ihr offenes langes Haar. »Ich bin doch schon vierzig Jahre alt, soll ich mir das noch einmal zutrauen? Aber ob du es glaubst oder nicht, langsam gewöhne ich mich an den Gedanken. Irgendwie freue ich mich jetzt sogar. Viele Frauen in meinem Alter bekommen noch Nachwuchs. Allerdings wollte ich nur in einer intakten Beziehung Kinder aufziehen. Wir zwei scheinen allerdings kurz vor der Scheidung zu stehen.«
»Kurz vor der Scheidung? Wie kommst du denn auf diesen Gedanken? Es ist doch alles gut zwischen uns, oder nicht?« Christian ließ sich wieder auf seinen Stuhl nieder, beugte sich über den Tisch und blickte seine Frau aufmerksam an.
»Wir sehen uns so gut wie nie. Ich weiß nichts mehr über dich. Es würde mich nicht einmal wundern, wenn du mit der Kleinen da draußen eine Affäre haben würdest.«
»Wie kannst du mir so etwas unterstellen? Du weißt doch, wie viel Arbeit in dieser Praxis anfällt, schließlich hast du selbst eine. Und du weißt, dass ich dich nie betrügen würde. Als wir beide unsere Karrieren aufbauten, wussten wir ganz genau, worauf wir uns einlassen.«
Überrascht musterte Jane ihren gutaussehenden Ehemann. Er kam ihr so fremd vor und das nach achtzehn Jahren Ehe.
»Liegt dir eigentlich noch etwas an unserer Beziehung?«, fragte sie mit klopfendem Herzen.
»Natürlich Jane, wie kannst du nur daran zweifeln?«
Zu ihrer Überraschung stand er auf, ging um den Tisch herum und zog sie in seine Arme. »Ich glaube, es ist höchste Zeit, dass wir in Ruhe miteinander sprechen.«
»Haben wir uns nicht schon alles gesagt?«
»Meine Schöne, das sieht dir überhaupt nicht ähnlich. Leider kann ich die Praxis jetzt nicht schließen, das Behandlungszimmer ist voll. Wir zwei werden heute Abend essen gehen und alles besprechen.«
Jane nickte zustimmend.
Einige Stunden später saß das Paar bei leiser Musik und Kerzenschein in einem kleinen, italienischen Restaurant.
»Findest du nicht, dass wir nur noch aus Gewohnheit zusammen sind?«, fragte Jane leise, während sie in ihr Wasserglas starrte.
»Nein, das sehe ich nicht so. Wie kommst du nur auf diesen absurden Gedanken?«, erwiderte Christian gekränkt.
»Das kann ich dir sagen. Damals in Weißwald waren wir glücklich miteinander … die ersten Jahre in Hamburg natürlich auch. Jetzt leben wir nur noch nebeneinander, wie zwei Fremde. Ach, ich vermisse das kleine Städtchen und meine Verwandten. Es war so schön damals.« Sanft berührte Jane die Hand ihres Mannes. »Sieh dir nur Dana und Alan an. Dana ist extrem eingebildet und Alan schleppt ständig neue Mädchen an.«
»Er ist gerade in diesem Alter.«
»Du warst nicht so.«
»Ich sah dich und wusste im ersten Moment, die oder keine. Irgendwann wird auch er die Richtige finden.«
»Ach Chris, du hast schon lange nicht mehr so mit mir gesprochen. Das vermisse ich. Aber kommen wir zu dem Baby zurück. Ich will nicht, dass es auch so verkorkst wird. Es soll nicht in der Großstadt aufwachsen.«
»Verstehe ich dich richtig? Du spielst mit dem Gedanken, nach Weißwald zurückzukehren?«, rief Christian überrascht. »Was soll aus deiner Tierarztpraxis werden? Du hast so viel Arbeit hineingesteckt.«
»Ich habe vorhin mit Alice telefoniert. Doktor Rode sucht einen Nachfolger für seine Praxis. Er würde sie dir sicher gern überlassen. Einen Tierarzt gibt es in der näheren Umgebung nicht, also wäre ich ganz ohne Konkurrenz.«
»Das kommt sehr überraschend. Was ist, wenn ich nicht mitkommen möchte?«
»Ich werde mein Baby nicht hier bekommen.«
»Du wirst also mit oder ohne mich gehen?« Verstört trank Christian sein Weinglas in einem Zuge leer. »Wie konnte es nur so weit kommen?«
»Also, ich will dich nicht unter Druck setzen. Wir könnten versuchen, eine Wochenendbeziehung zu führen.«
»Das klappt doch nie, dazu ist Weißwald viel zu weit weg. Jane, ich liebe dich. Doktor Rode gibt seine Praxis ab? Ich werde mich morgen mit ihm in Verbindung setzen. Für meine Praxis werde ich sicher schnell einen Nachfolger finden.«
»Du hast mir ewig nicht mehr gesagt, dass du mich liebst«, Jane seufzte erleichtert auf. »Du würdest wirklich mit nach Weißwald zurück gehen?«
»Du hast auch seit Ewigkeiten nicht mehr gesagt, dass du mich liebst«, erinnerte Christian sie traurig. »Ich würde dir überallhin folgen, selbst nach all den Jahren. Ich bin damals nur dir zuliebe mit nach Hamburg gekommen, aber gemocht habe ich die Großstadt nie. Meinetwegen können wir so bald wie möglich umziehen. Sicher können wir übergangsweise bei meinen Eltern wohnen, bis wir etwas Geeignetes für uns finden.«
»Bei deiner Mutter? Auf keinen Fall! Wenn es in Ordnung für dich ist, sorgt Alice dafür, dass ein Bereich des Gutshofs für uns hergerichtet wird. Es ist so groß und so viele Zimmer stehen leer. Du hast das Haus und das Gestüt früher doch immer sehr gemocht.«
»Ja, weil du da gewohnt hast, habe ich es geliebt. Ich möchte gerne dort leben und gemeinsam mit dir einen Neubeginn wagen. Du hast recht mit deiner Einschätzung über unsere Kinder. Es ist besser für beide, wenn wir sie von hier fortbringen.«
»Sie werden uns dafür hassen.«
[1] Britische Beat, -Rock-und Pop-Band, Psychedelic Rock, (1960–1970)
[2] aggressiv auftretender Jugendlicher
[3] Guten Morgen
[4] Wunderbar, und mein Traum bleibt ein Geheimnis
[5] Ja
[6] farblos, ohne Farbe
[7] Danke
[8] Was für ein hübscher junger Mann.
[9] Britischer Musiker (*01.03.1944), Mitbegründer und Sänger der Rockband The Who
[10] Britische Rockband, Gründung 1964
[11] Britischer Musiker, Komponist, Friedensaktivist, Mitbegründer der Beatles (*09.10.1940, †08.12.1980)
[12] Deutscher Schlagersänger und Schauspieler (*25. Januar, †9. Oktober 1991, bürgerlich Gerhard Höllerich)
[13] Deutsche Bezeichnung für Mitglieder der in den 1960er-Jahren in den USA entstandenen Hippiebewegung
[14] Rotzbengel, unreifer junger Mann