Die Bischofbande

Leseprobe Lissi

  1. Kapitel

 

  1. Oktober 1969

Während der großen Hofpause liefen Jane und Christian rüber zum Grundschulbereich. Der Schulhof war voller kleiner Kinder, die ziemlich laut die freie Zeit genossen, Fangen oder andere Spiele spielten.

Christian rief nach seiner kleinen Schwester, die schnell zu ihm angerannt kam.

»Hey Finchen, wir wollen die Banden weitergeben. Je sechs von euch dürfen heute um fünfzehn Uhr zu den Lagern kommen. Hast du das verstanden?«

»Klar!« Josefine strahlte ihren Bruder fröhlich an.

»Ich hoffe, dass du in die Bischofbande kommst.« Jane zwinkerte dem kleinen Mädchen zu.

»Ist mir egal. Hauptsache ich komme überhaupt in eine Bande.«

»Das klappt bestimmt. Bis nachher.« Christian berührte kurz Janes Arm. »Die Pause ist gleich vorbei. Wir müssen wieder rüber.«

»Oh, das stimmt. Die Zeit rast mal wieder.« Jane lächelte Christian schüchtern an. Sie verabschiedete sich ebenfalls von Finchen. Dann gingen die beiden Bandenanführer wieder hinüber zu den höheren Klassen.

Man, sind die verknallt, dachte Finchen grinsend. Dann lief sie zu ihren Freundinnen zurück und beobachtete gespannt, wie Gabriele die höchste Stufe beim Gummitwist[1] absolvierte.

Anschließend rannte sie zum Klettergerüst, auf dessen höchster Stange Lissi saß.

»Los Micha, trau dich! So hoch ist es gar nicht.«

»Das ist doch pipileicht«, schrie Michael, der auf einem aufgestellten Querbalken balancierte, zu ihr hoch. »Hab keine Lust dazu.«

Lachend kletterte Fine hinauf zu Lissi und setzte sich neben sie auf die Stange.

»Ich glaube, er traut sich nicht.«

»Ihr sehr aus wie die Hühner bei mir im Stall.« Michael sprang vom Balken und trat zu dem Klettergerüst.

Lissi und Fine blickten sich kichernd an, bevor sie wie Hühner zu gackern begannen.

Schnell kletterte Michael zu ihnen und als er sie erreicht hatte, rief er laut: »Kikeriki.«

Die Schulglocke ertönte und signalisierte den Kindern, dass die Hofpause zu Ende war. Langsam leerte sich der Schulhof, und die Kinder fanden sich in ihren Klassenräumen ein.

Mit der Nachricht des Tages wartete Fine, bis alle wieder im warmen Klassenzimmer waren.

»Mein Bruder hat mir gerade gesagt, dass heute die Banden weitergegeben werden«, rief sie dann in die Runde.

Eine kurze Sekunde lang war es still in dem Raum, dann brach ein lauter Lärm aus. Jeder rief, dass er in eine Bande wolle und manch einer konnte seine bevorzugte Bande auch schon benennen.

Herr Jansen, der Klassenlehrer, betrat mit schwungvollem Schritt den Raum.

Erschrocken blieb er am Türrahmen stehen und betrachtete seine kleinen Schützlinge verwundert, doch schnell bekam er mit, warum die Kleinen so außer sich waren.

»Guten Morgen!«, rief er laut, während er dann zu seinem Tisch schritt. »Wie ich höre, werden die Banden weitergegeben?«

Die Kinder rannten schnell zu ihren Tischen, setzten sich hin und blickten nach vorn zu ihrem Lehrer.

»Ja, Herr Jansen«, meldete Finchen sich aus der letzten Reihe. »Mein Bruder hat es mir gerade mitgeteilt.«

»Ah, dann ist heute also ein wichtiger Tag.« Herr Jansen kratzte sich kurz am Kopf und nickte dann bedächtig. »Wir sollten uns dieser Herausforderung annehmen, meint ihr nicht?«

Die Schüler nickten und lachten fröhlich.

Sie liebten ihren Klassenlehrer. Herr Jansen war ein junger Mann, der mit seinen kreativen Ideen frischen Wind in den Klassenraum brachte und so die Kinder motivierte, mehr für die Schule zu lernen.

»Ich selbst war leider nie in einer Bande«, erzählte er dann bedauernd. »Mein Jahrgang lag ungünstig dazwischen. Soweit ich weiß, entscheiden die Klassen durch Loseziehen, wer in welche Bande kommt. Das erachte ich als sinnvoll. Ich werde nun also welche basteln und dann wird jeder eins hier aus der kleinen Schachtel nehmen.«

Nach wenigen Minuten war er mit den Losen fertig. Dann ging er an den Tischen entlang, und jeder durfte sich ein zusammengefaltetes kleines Stück Papier nehmen.

Auf sein »Jetzt dürft ihr!« lasen alle, was auf ihren Zetteln stand.

Nach ein paar Sekunden war klar, wer von nun an in einer Bande und vor allem in welcher sein würde.

Zu der Bischofbande gehörten von nun an Michael Glasner, Rüdiger Franke, Josefine Kaiser, Birgit Förster, Holger Müller und Udo Kierdorf.

Bei den Willems waren jetzt Wolfgang König, Gabriele Weber, Elisabeth Neumann, Jürgen Peters, Torsten Roth und Norbert Stein.

Nachdem das geklärt war, begann Herr Jansen mit dem Deutschunterricht, aber irgendwie konnten sich zwölf seiner Erstklässler gar nicht konzentrieren. Zwar übten sie wie immer fleißig, die Buchstaben auf ihre Schiefertafeln zu schreiben, doch ständig wurde der Lehrer durch Flüstern und Kichern in seinen Erklärungen gestört. Er beschloss, heute nachsichtig zu sein, aber ab morgen musste wieder die alte Disziplin herrschen.

Kaum, dass die Pausenklingel ertönte, fanden sich die Banden in verschiedenen Ecken des Klassenzimmers zusammen.

Die Willemsjungen gratulierten sich gegenseitig, während Gabi und Lissi lächelnd dabeistanden und sich belustigte Blicke zuwarfen.

»Wir brauchen einen Anführer«, bemerkte Gabi schließlich.

»Oder eine Anführerin«, meinte Elisabeth selbstbewusst.

»Wolf ist der Richtige für den Posten«, warf Norbi ein.

»Ja, das würde mir Spaß machen.« Der eben angesprochene Junge stemmte seine Arme in die Hüften und warf einen abschätzenden Blick zu der Bischofbande. »Die werden ihr blaues Wunder erleben.«

»Ist jemand dagegen?«, fragte Torsten in die Runde.

Alle schüttelten mit dem Kopf und so wurde Wolfgang König der neue Anführer der Willemsbande.

 

Jedes der Kinder kannte die genaue Lage der kleinen zusammengeschusterten Laube und so trafen alle pünktlich am Willemslager ein.

»Ich habe meinen Eltern gerade erzählt, dass ich neuer Anführer werde«, sagte Wolf aufgeregt. »Sie waren ganz aus dem Häuschen.«

»Meine auch«, erwiderte Lissi fröhlich, während sie versuchte, durch das kleine Glasfenster in das Innere zu schauen. »Mein Vater war damals ebenfalls bei den Willems. Er hat sich richtig gefreut, dass ich nicht ein Bischof wurde.«

»Wer will schon ein Bischof werden«, meinte Jürgen nur abfällig.

»Na, Glasner zum Beispiel«, stellte Gabi lachend fest. »Den konnte ich eh noch nie leiden.«

»Ich auch nicht«, stimmte Torsten zu.

Na ja, ich eigentlich schon, dachte sich Lissi, doch sie hütete sich davor, ihre Gedanken laut zu äußern.

»Schaut mal, da kommt Christian«, rief Norbi. »Jetzt geht’s los.«

Der Anführer der Willems, ein gutaussehender sechzehnjähriger junger Mann mit halblangen dunkelbraun gewellten Haaren und auffallend dunkelblauen Augen, trug wie immer bequeme Reiterkleidung. In Gedanken versunken stieg er von seinem Pferd und band es an einem Baum fest. Dann trat er zu den kleinen Kindern und betrachtete sie skeptisch.

»Ihr habt also das Willem-Los gezogen.« Er griff in seine Hosentasche, holte einen Schlüssel hervor und öffnete damit die Tür des Willemslagers. »Dann lasst und jetzt mit der Übergabe beginnen.«

Die Kinder folgten ihm in die Laube und sahen sich neugierig um.

Im Innern der Hütte stand ein alter massiver Holztisch, um den sechs recht alte, aber sehr robust aussehende Stühle platziert waren.

Gegenüber der Tür befand sich ein hoher Schrank, dessen zwei Türen offenstanden. Er war leer.

»Setzt euch!«, forderte Christian die neuen Willems auf. Er selbst blieb stehen. »Habt ihr schon einen Anführer gewählt?«

Alle zeigten auf Wolf.

»Du sitzt dort am Kopf des Tisches.« Chris holte nun zwei große Bücher aus seiner Tasche und legte sie vor Wolf hin. »Das hier sind das Buch und die Chronik der Willemsbande. Bis vor Kurzem wussten wir nicht, dass diese Bücher existieren, aber die Bischofs haben ihre Originale im Sommer wiedergefunden. Wir haben sie ihnen gestohlen und das, was für uns wichtig ist, kopiert. Ich bin mir sicher, dass von unserer Bande auch welche existieren. Vielleicht findet ihr sie ja wieder. In der Chronik hier wird Wolf notieren, wann ihr die Bande übernommen habt, wer Mitglied ist und wann ihr sie weitergebt. Hier könnt ihr auch besonders gelungene Streiche hineinschreiben. Im Buch der Willems stehen alle Gesetze der Willems, an die ihr euch zu halten habt. Ein paar Punkte habe ich dem ursprünglichen Text hinzugefügt. Ja, das war es eigentlich schon. Wenn ihr Fragen habt, könnt ihr euch gerne bei mir melden.« Christian griff in seine Hosentasche und holte erneut den Schlüssel hervor. Diesen drückte er Wolf in die Hand.

»Pass gut darauf auf. Es gibt nur einen«, sagte er dabei. Dann ging er zu Tür. Dort drehte er sich noch einmal um und ließ seinen Blick leicht wehmütig durch das Lager gleiten.

Nachdem der ehemalige Anführer das Lager verlassen hatte, blickten alle gespannt zu Wolf.

»Ich trage jetzt unsere Namen in die Chronik ein. Dann können wir ein Eis essen gehen«, sagte er.

»Wollen wir nicht die Bischofbande suchen?«, fragte Torsten verwundert.

»Ach was, die werden wir noch oft genug in den nächsten Jahren sehen. Ich finde, wir sollten erst mal feiern, dass wir in der Bande sein dürfen. Ist das nicht total toll?«

»Ich habe aber kein Geld dabei«, warf Gabi ein.

»Ich auch nicht«, gab auch Norbi zu.

»Das ist kein Problem«, meldete Lissi sich. »Mein Papa hat mir vorhin ein paar Mark zugesteckt. Er hat wohl schon geahnt, dass wir unseren Bandeneintritt mit einem Eis feiern wollen.«

»Das war aber nett von ihm«, meinte Jürgen.

Lissi nickte.

»Ja, mein Papa ist der Beste.«

»Na, dann los!« Wolf stand auf und verließ mit seinen Freunden das Lager.

Kaum zehn Minuten später stürmten sie außer Atem in den Dorfladen.

»Tante Erna!«, rief Wolf laut in den Laden.

Ein paar Sekunden später schlurfte eine ältere Frau aus dem Hinterraum nach vorne in den Verkaufsbereich.

»Na, ihr Mäuse, was wollt ihr denn?«, fragte sie gutmütig.

»Wir sind jetzt die neue Willemsbande«, erzählte Gabi ihr stolz. »Deshalb wollen wir das mit einem Eis feiern«, fiel Lissi ihr ins Wort.

»Ach sieh an, die Banden wurden weitergegeben? Ist es wieder mal so weit? Eis am Stiel, sagtet ihr?«, fragte Frau Kunze lächelnd.

»Ja!«, schrien alle gleichzeitig.

»Also ich hätte Capri[2], Domino[3] oder Riesenhappen[4] in Vanille und Schokolade zur Auswahl. Erdbeere ist gerade ausverkauft.«

Jeder entschied sich für seine Lieblingssorte, und nachdem Lissi bezahlt hatte, rannten sie nach draußen zu der gegenüberliegenden Milchbar und setzten sich auf die kaum einen Meter hohe Mauer, die davor als Begrenzung zum Terrassenbereich stand.

Dort schleckten sie dann genüsslich an ihrem Eis und besprachen, wie sie sich nun, als Mitglieder der Willemsbande, ihr Leben vorstellten.

»Wie oft wollen wir uns nachmittags treffen?«, fragte Wolf in die Runde.

Gemeinsam entschieden sie sich für montags, mittwochs und freitags und wenn niemand etwas Wichtiges vorhatte, gerne auch am Wochenende.

»Aber nicht am Sonntagnachmittag«, beschwerte sich Lissi sofort. »Da kommt doch Skippy, das Buschkänguru[5]

»Und um drei Rauchende Colts[6]«, protestierte Norbert.

»Vergesst nicht Big Valley[7]!«, meinte auch Torsten.

»Ach, das fängt erst halb sechs an«, winkte Wolf ab. »Da sind wir doch schon zu Hause. Aber Rauchende Colts schau ich auch immer.«

Gabi hob nur ihre Schultern. »Wir haben keinen Fernseher. Meine Eltern wollen sich den nicht leisten. Wenn wir Samstagabends Einer wird gewinnen[8], Hitparade[9] oder Zum Blauen Bock[10] schauen wollen, besuchen wir immer meine Großeltern.«

»Meine haben auch immer so geredet, bis Vati vor zwei Jahren plötzlich einen zu Weihnachten mitbrachte«, erzählte Lissi. »Du kannst ruhig mal zu mir kommen, wenn was Gutes läuft.«

»Oh, gerne.« Gabi verdrehte kurz die Augen. »Bei uns läuft immer nur das Radio und ich spare jeden Pfennig fürs Kino.«

Lissi, die bisher nicht viel mit Gabriele zu tun hatte, drückte ihr freundschaftlich die Hand.

»Ich gehe auch absolut gerne ins Kino, weil ich die Kinderfilmvorstellungen liebe. Sag mir Bescheid, dann gehen wir das nächste Mal zusammen.«

»Nächsten Sonntag?«

»Ja, gern.«

»Schaut mal, wer da kommt«, bemerkte Wolf plötzlich und richtete sich gespannt auf.

»Die Bischofbande«, sagten alle Willems gleichzeitig.

»Jetzt wird’s lustig«, meinte Jürgen erfreut.

Wolf stand auf und stellte sich in die Mitte des Fußgängerweges. Spontan sprangen die anderen ebenfalls hoch und platzierten sich hinter ihn wie eine Mauer.

Schnellen Schrittes eilte Michael, gefolgt von seiner Bande, auf sie zu.

Schließlich standen sie sich das erste Mal als offizielle Mitglieder verfeindeter Banden gegenüber.

»Hey, Glasner«, begrüßte Wolf ihn, als dieser vor ihn trat. »Das ist mein Revier. Ich will euch von nun an hier an der Milchbar nicht mehr sehen.«

Michael lachte laut auf.

»Das ist nicht dein Ernst. Du spinnst wohl!«

»Nein, das meine ich so, wie ich es sage.«

»Ich zeig dir gleich, wer sich hier nicht mehr blicken zu lassen hat.«

 

Mit einer Zigarette in der rechten Hand eilte Carla Freymann, die Besitzerin der Milchbar und des einzigen großen Kaufhauses in der Hauptstraße, aus dem Laden hin zu den miteinander kämpfenden Kindern.

»Was ist hier los?«, rief sie erbost über den Radau, die diese kleinen Kinder durch ihren Kampf verursachten.

»Wir haben die Banden übernommen«, teilte Michael ihr stolz mit, während er Wolf im Schwitzkasten hielt.

Schnell boxte ihn Wolf in die Seite und befreite sich aus dem Griff.

»Verschwindet hier und tragt euren Kampf im Wald aus«, knurrte die Ladenbesitzerin die Kleinen an. »Sonst hole ich die Polizei und die steckt euch dann wegen Ruhestörung ins Gefängnis.«

Erschrocken lösten sich die Kinder voneinander und starrten die junge Frau an, die mit in die Hüften gestemmten Händen vor ihnen stand.

»Los, ab zum Lager«, rief Michael schnell zu seiner Bande.

»Wir auch«, sagte Wolf und schon ein paar Sekunden später waren die Kinder um die nächste Ecke verschwunden.

»Immer diese Banden«, murmelte Carla und zog an ihrer Zigarette. Leider hatte ihre Generation nicht das Glück gehabt, eine der Banden übernehmen zu können. Schade eigentlich, dachte sie sich schmunzelnd. Ich wäre bestimmt eine gute Anführerin geworden.

Dann drehte sie sich um und ging zurück in die Milchbar. Hier lag noch eine Menge Büroarbeit vor ihr. Und gleich würde Walter, ihr Verlobter, sie abholen. Sie musste sich wirklich sehr beeilen.

 

»Der Glasner hat aber schön blöd aus der Wäsche geguckt«, sagte Lissi lachend, als sie ein paar Minuten später wieder auf den alten Stühlen im Lager saßen. Dann rutschte sie mit säuerlich verzogenem Mund auf der Sitzfläche hin und her.

»Das geht nicht. Diese Stühle sind total unbequem. Ich frage meinen Vater, ob er uns für das Lager neue kaufen kann«, beschloss sie dann.

»Das wäre echt nett. Meiner hält bestimmt nicht mehr lange«, stimmte Gabi zu. »Schaut her! Da müsste man mit Holzleim ran.«

Wolf betrachtete die wenigen Möbel im Lager ebenfalls kritisch.

»Mir gefällt es hier auch nicht besonders. Ich frage meine Eltern nachher, ob sie uns einen neuen Schrank besorgen können.«

»Dein Vater hat doch eine Sanitärfirma.« Torsten grinste den Anführer breit an, sodass jeder die große Zahnlücke durch die letztens ausgefallenen Milchzähne sehen konnte. »Könnte er uns hier nicht eine Toilette einbauen?«

»Mitten im Wald?« Wolf schüttelte entschuldigend den Kopf. »Zaubern kann er leider nicht. Du musst wohl wie alle unsere Vorgänger alles im Wald erledigen.«

Torsten seufzte laut und brach dann mit dem Rest der Willemsbande in lautes Lachen aus.

 

Schmunzelnd dachte Felix Jansen, der Klassenlehrer der 1a an das Gespräch, dass er eben im Lehrerzimmer mit seinen Kollegen geführt hatte.

»Nein, ernsthaft?« hatte die Musiklehrerin Isabell Schöne gerufen. »Dass du auch so ein Pech haben musst. Ich prophezeie dir, dass du von nun an nur noch Ärger mit den Kleinen haben wirst.«

»Da hat sie recht«, meinte auch der Sport- und Mathelehrer Heiner Schwarz. »Was war ich froh, als die letzten Bandenmitglieder rüber in die oberen Klassen gekommen sind. Christian und Hannes waren wie Feuer und Wasser, kaum zu bändigen. Man durfte den beiden nie den Rücken zuwenden.«

»Durch die Feindschaft zwischen den Banden gab es ständig Unruhe in der Klasse«, erinnerte sich die Englischlehrerin Renate Wiesen. »Ich bin ja nun schon lange dabei und stehe kurz vor der Rente. In meiner Zeit als Lehrerin habe ich schon mehrere Bandenjahrgänge erlebt. Es ist immer das Gleiche. Die ersten Tage nach der Bandenübernahme gehen noch. Da gewöhnen sich die Kinder erst mal an die neue Situation. Aber sobald sie sich eingelebt haben, fangen sie an, sich bei jeder Gelegenheit gegenseitig zu bekämpfen.«

»Und die Streiche, die sie sich vorzugsweise im Unterricht spielen …«

Felix sah der Musiklehrerin direkt in die hübschen blauen Augen. »Sie spielen sich gegenseitig Streiche? Na, wie schön, dass ich dann nicht mehr das bevorzugte Ziel bin.«

Isabells Wangen röteten sich leicht.

»Das werden sie ja nicht nur in deinem Unterricht machen. Die Unruhe wird sich durch alle Stunden ziehen. An die Hofpause will ich gar nicht erst denken.«

»Danke für die Warnung.« Felix erhob sich von seinem Stuhl und ging zur Tür. »Ich werde mit den Kindern sprechen.«

Die Musiklehrerin folgte ihm schnell, und gemeinsam schritten sie den Gang entlang zu ihren nicht weit voneinander liegenden Klassenräumen.

»Wenn du Hilfe brauchst oder einfach nur reden möchtest, kannst du dich natürlich gerne an mich wenden«, begann Isabell schließlich zögernd, während sich die Wangen noch mehr verfärbten.

Felix sah sie lächelnd von der Seite an. Seit Wochen hatte er sich den Kopf darüber zerbrochen, wie er seiner hübschen Kollegin näherkommen könnte. Sie direkt nach einer Verabredung zu fragen wäre ihm nie eingefallen, schließlich sahen sie sich tagtäglich. Wenn sie Nein gesagt hätte, hätte sich die weitere Zusammenarbeit sicher peinlich gestaltet.

»Sehr gerne. Wie wäre es mit einem Kaffee in der Milchbar heute Nachmittag? Dann kann ich dir von meinem ersten Tag als Klassenlehrer der neuen Bandengeneration berichten?«

»Ja, das lässt sich einrichten. Sagen wir sechzehn Uhr?«

»Perfekt. Dann bis später.« Isabell betrat mit beschwingtem Schritt den Raum, in dem sie nun die dritte Klasse in Musik unterrichten würde.

Felix sah ihr sehnsüchtig nach, dann ging er weiter zu seiner 1a.

»Herr Jansen kommt!«, hörte er dann schon von Weitem einen der Jungen aufgeregt in den Klassenraum rufen. Also hatte das Chaos wohl schon begonnen. Sonst stand niemals jemand Schmiere[11], um die Klasse vor seinem Ankommen zu warnen.

Er dachte an Isabell und wie sie verlegen seine Einladung angenommen hatte. Voller Elan betrat er die Klasse und lächelte, als er die Kleinen still auf ihren Stühlen sitzen sah. Mit auffallend unschuldiger Miene sahen ihn die Mitglieder beider Banden an, und auch der Rest der Klasse schien heute unglaublich brav zu sein.

Soweit er es beurteilen konnte, schien im Klassenraum alles in Ordnung zu sein. Sogar die Tafel war ordentlich abgewaschen worden.

Vielleicht hatten seine Kollegen übertrieben, um ihm Angst einzujagen? Ja, das musste es sein. Oh man, und dabei war heute nicht mal der erste April …

 

Hoffentlich sieht Herr Jansen nicht den feuchten Fleck an der Decke, dachte Lissi ängstlich. Mist, warum musste der nasse Schwamm auch so gut fliegen! Wütend drehte sie sich zu Michael, dem Auslöser des Problems. Erst hatten er und Wolf miteinander gestritten und dann mussten sie ausgerechnet vor der Tafel miteinander kämpfen.

»Ja, den blöden Glasner schaffst du!«, rief Lissi von ihrem Platz aus lachend. Michael, der das gehört hatte, griff spontan nach dem Schwamm, der neben ihm auf der Tafelablage lag, und schleuderte ihn in ihr Gesicht.

Angewidert versuchte sie, die Erinnerung an den nach Kreide und abgestandenem Wasser riechenden gelben Schwamm zu verdrängen. Sie hatte das Gefühl, als ob ihr Gesicht noch immer danach stinken würde, obwohl sie sich direkt gewaschen hatte. Das würde sie dem Bischofanführer nie verzeihen! Dabei hatte sie diesen Jungen immer von allen am meisten gemocht.

Schnell hatte sie mit ihrem Ärmel über ihre Augen gerieben und dann das widerliche Ding zurück auf Michael geworfen.

Dieser hatte mit der Hand das Geschoss abgelenkt, sodass es hinauf zur Decke geflogen war und dort einen großen nassen Fleck hinterlassen hatte.

Herr Jansen begann mit dem Deutschunterricht.

Heute hatte er geplant, mit seinen Schützlingen kleine einfache Sätze aus dem vorderen Teil der Fibel[12] zu lesen.

Auf seine Anweisung hin öffneten die Kleinen artig ihre Schulbücher, doch während er sie dabei beobachtete, ließ ihn irgendetwas stutzen.

Als er Gabriele bat, den ersten Satz vorzulesen, wurde ihm klar, was es war. Ständig sahen die Kinder, ihrer Meinung nach vermutlich unauffällig, hinauf zur Raumdecke.

Jetzt nur nicht falsch reagieren, mahnte er sich. Felix ging zu seinem Stuhl und ließ sich langsam darauf nieder. Unauffällig schielte er nach oben und entdeckte den fetten Wasserfleck, der schon dabei war, zu trocknen.

Er ahnte, was passiert war, doch nun wusste er nicht, wie er darauf reagieren sollte. Schimpfen und Strafen verteilen? Das war nicht sein Stil und würde hier auch nicht weiterhelfen. Seine Klasse war, wie er heute beobachten konnte, eine eingeschworene Gemeinschaft geworden. Und das, obwohl in ihr zwei verfeindete Banden gegeneinander kämpften.

»Holger, den nächsten Satz bitte!«, sagte er schnell, nachdem Gabi ihren Teil gelesen hatte.

Als die Pausenklingel ertönte, beendete er den Unterricht. Die Kinder sprangen von ihren Stühlen auf und liefen zur Tür. Jetzt war die erste Hofpause und sie konnten es alle kaum erwarten, das Schulgebäude zu verlassen.

»Wolf und Michael bleiben bitte noch kurz bei mir.«

Während ein Teil der Kinder den Raum verließ, blieben die Mitglieder der beiden Banden zögernd an der Tür stehen. Sie wollten ihren Anführern in diesem kritischen Moment zur Seite stehen.

Michael und Wolf traten mit hängenden Köpfen zu Herrn Jansen an den Lehrerpult.

 

  1. Kapitel

 

  1. Mai 1976

Michael beobachtete, wie seine Chefin hinter der Theke recht viel Wodka aus einem Flachmann in ihren Kaffee schüttete und diesen dann schnell austrank. Als sie seinen verwunderten Blick bemerkte, winkte sie nur unwirsch ab.

Da gerade niemand in der Bar war, setzte Carla sich auf einen Barhocker und beobachtete ihren Angestellten bei der Arbeit.

»Du hast eine Schramme im Gesicht. Hast du dich wieder mit den Willems geprügelt?«

»Ja, wir hatten im Wald einen kleinen Zusammenstoß.«

»Klar, warum frage ich überhaupt.«

Carla griff über die Theke nach der Wodkaflasche und goss einen großen Schluck in ihre Tasse. Auch die trank sie in einem Zuge aus.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Michael schließlich leise und ließ die Flasche im Kühlschrank verschwinden.

»Er will sich scheiden lassen, weil ich keine Kinder bekommen kann«, begann sie schließlich leise zu erzählen. »Er schwor mir die ewige Liebe und die Hochzeit hat mehrere tausend Mark gekostet. Es gab das ganze Programm mit einem Meer an Blumen, Kirche, Kutsche und einer riesigen, mehrstöckigen Torte. Danach waren wir in den Flitterwochen an den Niagarafällen. Und nun haut er beim ersten Problem ab. Als ob diese Diagnose nicht schon schlimm genug für mich wäre. Ich wollte immer Kinder und ich kann sie mir auch leisten. Selbst mein nichtsnutziger Bruder hat einen Sohn hinbekommen und der ist der Letzte, der ein Kind haben sollte. Er hat ihn Justin genannt. Was für ein dämlicher Name.«

»Das finde ich ziemlich gemein«, stimmte Michael zu, während er Gläser spülte und diese dann mit einem Handtuch trocken rieb.

»Ich dachte, es wäre die große Liebe. Ach, was solls.« Carla griff in ihre Handtasche, die vor ihr auf dem Tresen lag, nahm den Flachmann heraus, goss sich den restlichen Wodka in die Kaffeetasse und leerte sie in ein paar Sekunden.

Michael überlegte, ob er etwas sagen sollte, entschied sich jedoch dagegen.

»Fehlt nur noch, dass ich ihm Unterhalt zahlen soll. Dieser Idiot hat schon so etwas in der Art angedeutet.«

»Er will auch noch Geld?«, rief Michael verblüfft aus. »Mit welchem Recht?«

»Das frage ich mich auch. Es war damals sehr bequem, sich eine wohlhabende Frau zu nehmen und dann nicht mehr auf dem Bau arbeiten zu müssen. Die fehlenden Rentenjahre wirft er mir nun aber vor.« Carla stand auf, lief erneut hinter den Tresen, griff nach einer Flasche Cognac und goss sich die Tasse damit randvoll.

Dann trank sie einen weiteren großen Schluck.

Stirnrunzelnd beobachtete Michael sie dabei. In diesem Moment öffnete sich die Tür und ein paar Mädchen betraten mit ihren Freunden Händchen haltend die Bar.

Carla betrachtete die jungen Gäste und schnaubte abfällig.

»Hören Sie«, sagte Michael und ließ schnell die Cognacflasche unter dem Tresen verschwinden. »Wie wäre es, wenn Sie jetzt nach Hause gehen, und ich kümmere mich hier um alles? Den Schlüssel bringe ich Ihnen dann nach Feierabend vorbei? Ich werfe ihn in Ihren Briefkasten.«

Carla, die die Wirkung des Alkohols bereits spürte, lächelte ihn spöttisch an.

»Du willst mich wohl vor einer peinlichen Situation bewahren? Was habe ich da nur für einen vorbildlichen Mitarbeiter! Kaum vierzehn und schon so verständig. Hat deine Mama nichts dagegen, wenn du in der Woche erst nach neun Uhr nach Hause kommst?«

»In zwei Monaten werde ich fünfzehn. Meine Schwester kommt heute sicher hier noch rein. Sie kann Bescheid sagen.«

»Also gut«, gab sich Carla geschlagen. »Aber wehe, es gibt Probleme mit der Kasse, oder du lässt das Licht oder die Kaffeemaschine an.«

»Keine Sorge«, beruhigte Michael sie und drückte ihr die Handtasche in die Hand.

Das bedeutete drei Stunden länger arbeiten. Schnell überschlug er im Kopf, wie hoch dieser zusätzliche Lohn plus Trinkgeld war.

Nicht schlecht, dachte er vergnügt.

 

 

  1. Mai 1976

Verträumt folgte Lissi mit den Augen den Staubfünkchen, die auf schrägen Sonnenbalken zum Fenster hin schwebten.

Mit halbem Ohr lauschte sie Frau Seidels monotoner Stimme, die über die Biografie von Heinrich von Kleist[13] und die von ihm verfassten Werke dozierte. Lissi seufzte leise. Die Klasse würde ein Werk von ihm lesen müssen. Sie hatte keine Ahnung, wann sie dafür die Zeit aufbringen sollte.

Kurz vor Stundenende klopfte es laut an der Tür und nur eine Sekunde später betrat der Direktor den Raum.

Mit wichtiger Miene entschuldigte er sich bei der Lehrerin für die Störung, dann drehte er sich zu der Klasse und ließ seinen Blick über die Kinder gleiten.

»Ich habe unsere Schule bei dem landesweiten Tischtenniscup der Schulen angemeldet. Dort treten ausgewählte Schüler, jeweils zwei Mädchen und zwei Jungen, für ihre Schulen gegeneinander beim Tischtennis an. Erst spielen die besten Schulen des Bundeslandes gegeneinander und der Gewinner tritt dann gegen die Sieger der anderen Bundesländer an. Na, ist das nichts? Der finale Gewinner bekommt einen Pokal, den ich wirklich gerne in unserer Vitrine sehen würde, und ein kleines Preisgeld, das in die Verschönerung der Schule und in eure nächste Klassenfahrt fließen würde. Seit ich euch auf dem Schulhof spielen sehe, kämpfe ich mit mir, ob ich es machen soll oder nicht, schließlich ist mir bewusst, dass ihr eure Bandendifferenzen so austragt – dem Herrn sei Dank! Ich denke, ihr seid nun alt genug, um über euren Streit hinwegzusehen und für unsere Schule in diesem deutschlandweiten Turnier anzutreten.«

»Sie halten uns für gut genug?«, fragte Wolf geschmeichelt.

»Auf jeden Fall.«

»Wer von uns soll zu dem Cup fahren?«, rief Torsten.

»Jeder Direktor schickt die vier Besten seiner Schule, zwei Mädchen und zwei Jungen.«

»Wer entscheidet, wer von uns die Besten sind?«, wollte Biggi wissen.

Der Direktor nickte bedächtig.

[1] Kinderspiel, auch als Gummihopse, Gummihoppe oder Schlüpfergummi bekannt. Spielutensil ist ein ca. 3 Meter langes Gummiband, mindestens 3 Teilnehmer

 

[2] Wassereis mit Orangengeschmack, seit 1959 bei Langnese erhältlich

[3] Domino-Eis, Milcheis mit Vanillegeschmack, Schokoglasur und Waffe, seit den 50er Jahren bei Langnese erhältlich

[4] Waffeleis in Vanille, Erdbeere und Schokolade. Seit den 50er Jahren bei Lagnese und bei Nestlé Schöller (unter dem Namen Sandwich) erhältlich

[5] Originaltitel Skippy, australische Kinderfernsehserie. Erscheinungsjahre 1967-1969

[6] Originaltitel Gunsmoke, US-amerikanische Western-Fernsehserie, Erscheinungsjahre: 1955-1975

[7] Originaltitel The Big Valley, US-amerikanische Western-Fernsehserie, Erscheinungsjahre 1965-1969

[8] Quiz Sendung der ARD, Erscheinungsjahre 1964-1966, 1968-1969, 1979-1987, 1998, 2014, Moderation 1964-1966, 1968-1969, 1979-1987: Hans-Joachim Kulenkampff, 1998: Jörg Kachelmann, 2014: Jörg Pilawa

[9] Musiksendung. Erscheinungsjahre 1969-2000, Moderator von 1969-1984: Dieter Thomas Heck, 1985-1989: Viktor Worms, 1990–2000: Uwe Hübner

[10] Unterhaltungssendung des Hessischen Rundfunks im Deutschen Fernsehen, Erscheinungsjahre 1957-1987, Moderation 1957-1965: Otto Höpfner, 1966-1987: Heinz Schenk und Lia Wöhr

 

[11] Schmiere kommt aus dem Jiddischen, wo „schimro“ so viel heißt wie „Wache“ oder „Bewachung“.

[12] Leicht verständliches Schulbuch zum Lesenlernen

[13] Deutscher Dramatiker, Erzähler, Lyriker und Publizist, (*10. oder 18. Oktober 1777, † 21. November 1811)

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