Die Bischofbande

1. Kapitel

21. Oktober 1969

Während der großen Hofpause liefen Jane und Christian rüber zum Grundschulbereich. Der Schulhof war voller kleiner Kinder, die ziemlich laut die freie Zeit genossen, Fangen oder andere Spiele spielten.

Christian rief nach seiner kleinen Schwester, die schnell zu ihm angerannt kam.

»Hey Finchen, wir wollen die Banden weitergeben. Je sechs von euch dürfen heute um fünfzehn Uhr zu den Lagern kommen. Hast du das verstanden?«

»Klar!« Josefine strahlte ihren Bruder fröhlich an.

»Ich hoffe, dass du in die Bischofbande kommst.« Jane zwinkerte dem kleinen Mädchen zu.

»Ist mir egal. Hauptsache ich komme überhaupt in eine Bande.«

»Das klappt bestimmt. Bis nachher.« Christian berührte kurz Janes Arm. »Die Pause ist gleich vorbei. Wir müssen wieder rüber.«

»Oh, das stimmt. Die Zeit rast mal wieder.« Jane lächelte Christian schüchtern an. Sie verabschiedete sich ebenfalls von Finchen. Dann gingen die beiden Bandenanführer wieder hinüber zu den höheren Klassen.

Man, sind die verknallt, dachte Finchen grinsend. Dann lief sie zu ihren Freundinnen zurück und beobachtete gespannt, wie Gabriele die höchste Stufe beim Gummitwist[1] absolvierte.

Anschließend rannte sie zum Klettergerüst, auf dessen höchster Stange Lissi saß.

»Los Micha, trau dich! So hoch ist es gar nicht.«

»Das ist doch pipileicht«, schrie Michael, der auf einem aufgestellten Querbalken balancierte, zu ihr hoch. »Hab keine Lust dazu.«

Lachend kletterte Fine hinauf zu Lissi und setzte sich neben sie auf die Stange.

»Ich glaube, er traut sich nicht.«

»Ihr sehr aus wie die Hühner bei mir im Stall.« Michael sprang vom Balken und trat zu dem Klettergerüst.

Lissi und Fine blickten sich kichernd an, bevor sie wie Hühner zu gackern begannen. 

Schnell kletterte Michael zu ihnen und als er sie erreicht hatte, rief er laut: »Kikeriki.«

Die Schulglocke ertönte und signalisierte den Kindern, dass die Hofpause zu Ende war. Langsam leerte sich der Schulhof, und die Kinder fanden sich in ihren Klassenräumen ein.

Mit der Nachricht des Tages wartete Fine, bis alle wieder im warmen Klassenzimmer waren.

»Mein Bruder hat mir gerade gesagt, dass heute die Banden weitergegeben werden«, rief sie dann in die Runde.

Eine kurze Sekunde lang war es still in dem Raum, dann brach ein lauter Lärm aus. Jeder rief, dass er in eine Bande wolle und manch einer konnte seine bevorzugte Bande auch schon benennen.

Herr Jansen, der Klassenlehrer, betrat mit schwungvollem Schritt den Raum.

Erschrocken blieb er am Türrahmen stehen und betrachtete seine kleinen Schützlinge verwundert, doch schnell bekam er mit, warum die Kleinen so außer sich waren.

»Guten Morgen!«, rief er laut, während er dann zu seinem Tisch schritt. »Wie ich höre, werden die Banden weitergegeben?«

Die Kinder rannten schnell zu ihren Tischen, setzten sich hin und blickten nach vorn zu ihrem Lehrer.

»Ja, Herr Jansen«, meldete Finchen sich aus der letzten Reihe. »Mein Bruder hat es mir gerade mitgeteilt.«

»Ah, dann ist heute also ein wichtiger Tag.« Herr Jansen kratzte sich kurz am Kopf und nickte dann bedächtig. »Wir sollten uns dieser Herausforderung annehmen, meint ihr nicht?«

Die Schüler nickten und lachten fröhlich.

Sie liebten ihren Klassenlehrer. Herr Jansen war ein junger Mann, der mit seinen kreativen Ideen frischen Wind in den Klassenraum brachte und so die Kinder motivierte, mehr für die Schule zu lernen.

»Ich selbst war leider nie in einer Bande«, erzählte er dann bedauernd. »Mein Jahrgang lag ungünstig dazwischen. Soweit ich weiß, entscheiden die Klassen durch Loseziehen, wer in welche Bande kommt. Das erachte ich als sinnvoll. Ich werde nun also welche basteln und dann wird jeder eins hier aus der kleinen Schachtel nehmen.«

Nach wenigen Minuten war er mit den Losen fertig. Dann ging er an den Tischen entlang, und jeder durfte sich ein zusammengefaltetes kleines Stück Papier nehmen.

Auf sein »Jetzt dürft ihr!« lasen alle, was auf ihren Zetteln stand.

Nach ein paar Sekunden war klar, wer von nun an in einer Bande und vor allem in welcher sein würde.

Zu der Bischofbande gehörten von nun an Michael Glasner, Rüdiger Franke, Josefine Kaiser, Birgit Förster, Holger Müller und Udo Kierdorf.

Bei den Willems waren jetzt Wolfgang König, Gabriele Weber, Elisabeth Neumann, Jürgen Peters, Torsten Roth und Norbert Stein.

Nachdem das geklärt war, begann Herr Jansen mit dem Deutschunterricht, aber irgendwie konnten sich zwölf seiner Erstklässler gar nicht konzentrieren. Zwar übten sie wie immer fleißig, die Buchstaben auf ihre Schiefertafeln zu schreiben, doch ständig wurde der Lehrer durch Flüstern und Kichern in seinen Erklärungen gestört. Er beschloss, heute nachsichtig zu sein, aber ab morgen musste wieder die alte Disziplin herrschen.

Kaum, dass die Pausenklingel ertönte, fanden sich die Banden in verschiedenen Ecken des Klassenzimmers zusammen.

Die Willemsjungen gratulierten sich gegenseitig, während Gabi und Lissi lächelnd dabeistanden und sich belustigte Blicke zuwarfen.

»Wir brauchen einen Anführer«, bemerkte Gabi schließlich.

»Oder eine Anführerin«, meinte Elisabeth selbstbewusst.

»Wolf ist der Richtige für den Posten«, warf Norbi ein.

»Ja, das würde mir Spaß machen.« Der eben angesprochene Junge stemmte seine Arme in die Hüften und warf einen abschätzenden Blick zu der Bischofbande. »Die werden ihr blaues Wunder erleben.«

»Ist jemand dagegen?«, fragte Torsten in die Runde.

Alle schüttelten mit dem Kopf und so wurde Wolfgang König der neue Anführer der Willemsbande.

Jedes der Kinder kannte die genaue Lage der kleinen zusammengeschusterten Laube und so trafen alle pünktlich am Willemslager ein.

»Ich habe meinen Eltern gerade erzählt, dass ich neuer Anführer werde«, sagte Wolf aufgeregt. »Sie waren ganz aus dem Häuschen.«

»Meine auch«, erwiderte Lissi fröhlich, während sie versuchte, durch das kleine Glasfenster in das Innere zu schauen. »Mein Vater war damals ebenfalls bei den Willems. Er hat sich richtig gefreut, dass ich nicht ein Bischof wurde.«

»Wer will schon ein Bischof werden«, meinte Jürgen nur abfällig.

»Na, Glasner zum Beispiel«, stellte Gabi lachend fest. »Den konnte ich eh noch nie leiden.«

»Ich auch nicht«, stimmte Torsten zu.

Na ja, ich eigentlich schon, dachte sich Lissi, doch sie hütete sich davor, ihre Gedanken laut zu äußern.

»Schaut mal, da kommt Christian«, rief Norbi. »Jetzt geht’s los.«

Der Anführer der Willems, ein gutaussehender sechzehnjähriger junger Mann mit halblangen dunkelbraun gewellten Haaren und auffallend dunkelblauen Augen, trug wie immer bequeme Reiterkleidung. In Gedanken versunken stieg er von seinem Pferd und band es an einem Baum fest. Dann trat er zu den kleinen Kindern und betrachtete sie skeptisch.

»Ihr habt also das Willem-Los gezogen.« Er griff in seine Hosentasche, holte einen Schlüssel hervor und öffnete damit die Tür des Willemslagers. »Dann lasst und jetzt mit der Übergabe beginnen.«

Die Kinder folgten ihm in die Laube und sahen sich neugierig um.

Im Innern der Hütte stand ein alter massiver Holztisch, um den sechs recht alte, aber sehr robust aussehende Stühle platziert waren.

Gegenüber der Tür befand sich ein hoher Schrank, dessen zwei Türen offenstanden. Er war leer. 

»Setzt euch!«, forderte Christian die neuen Willems auf. Er selbst blieb stehen. »Habt ihr schon einen Anführer gewählt?«

Alle zeigten auf Wolf.

»Du sitzt dort am Kopf des Tisches.« Chris holte nun zwei große Bücher aus seiner Tasche und legte sie vor Wolf hin. »Das hier sind das Buch und die Chronik der Willemsbande. Bis vor Kurzem wussten wir nicht, dass diese Bücher existieren, aber die Bischofs haben ihre Originale im Sommer wiedergefunden. Wir haben sie ihnen gestohlen und das, was für uns wichtig ist, kopiert. Ich bin mir sicher, dass von unserer Bande auch welche existieren. Vielleicht findet ihr sie ja wieder. In der Chronik hier wird Wolf notieren, wann ihr die Bande übernommen habt, wer Mitglied ist und wann ihr sie weitergebt. Hier könnt ihr auch besonders gelungene Streiche hineinschreiben. Im Buch der Willems stehen alle Gesetze der Willems, an die ihr euch zu halten habt. Ein paar Punkte habe ich dem ursprünglichen Text hinzugefügt. Ja, das war es eigentlich schon. Wenn ihr Fragen habt, könnt ihr euch gerne bei mir melden.« Christian griff in seine Hosentasche und holte erneut den Schlüssel hervor. Diesen drückte er Wolf in die Hand.

»Pass gut darauf auf. Es gibt nur einen«, sagte er dabei. Dann ging er zu Tür. Dort drehte er sich noch einmal um und ließ seinen Blick leicht wehmütig durch das Lager gleiten.

Nachdem der ehemalige Anführer das Lager verlassen hatte, blickten alle gespannt zu Wolf.

»Ich trage jetzt unsere Namen in die Chronik ein. Dann können wir ein Eis essen gehen«, sagte er.

»Wollen wir nicht die Bischofbande suchen?«, fragte Torsten verwundert.

»Ach was, die werden wir noch oft genug in den nächsten Jahren sehen. Ich finde, wir sollten erst mal feiern, dass wir in der Bande sein dürfen. Ist das nicht total toll?«

»Ich habe aber kein Geld dabei«, warf Gabi ein.

»Ich auch nicht«, gab auch Norbi zu.

»Das ist kein Problem«, meldete Lissi sich. »Mein Papa hat mir vorhin ein paar Mark zugesteckt. Er hat wohl schon geahnt, dass wir unseren Bandeneintritt mit einem Eis feiern wollen.«

»Das war aber nett von ihm«, meinte Jürgen.

Lissi nickte.

»Ja, mein Papa ist der Beste.«

»Na, dann los!« Wolf stand auf und verließ mit seinen Freunden das Lager.

Kaum zehn Minuten später stürmten sie außer Atem in den Dorfladen.

»Tante Erna!«, rief Wolf laut in den Laden.

Ein paar Sekunden später schlurfte eine ältere Frau aus dem Hinterraum nach vorne in den Verkaufsbereich.

»Na, ihr Mäuse, was wollt ihr denn?«, fragte sie gutmütig.

»Wir sind jetzt die neue Willemsbande«, erzählte Gabi ihr stolz. »Deshalb wollen wir das mit einem Eis feiern«, fiel Lissi ihr ins Wort.

»Ach sieh an, die Banden wurden weitergegeben? Ist es wieder mal so weit? Eis am Stiel, sagtet ihr?«, fragte Frau Kunze lächelnd.

»Ja!«, schrien alle gleichzeitig.

 »Also ich hätte Capri[2], Domino[3] oder Riesenhappen[4] in Vanille und Schokolade zur Auswahl. Erdbeere ist gerade ausverkauft.«

Jeder entschied sich für seine Lieblingssorte, und nachdem Lissi bezahlt hatte, rannten sie nach draußen zu der gegenüberliegenden Milchbar und setzten sich auf die kaum einen Meter hohe Mauer, die davor als Begrenzung zum Terrassenbereich stand.

Dort schleckten sie dann genüsslich an ihrem Eis und besprachen, wie sie sich nun, als Mitglieder der Willemsbande, ihr Leben vorstellten.

»Wie oft wollen wir uns nachmittags treffen?«, fragte Wolf in die Runde.

Gemeinsam entschieden sie sich für montags, mittwochs und freitags und wenn niemand etwas Wichtiges vorhatte, gerne auch am Wochenende.

»Aber nicht am Sonntagnachmittag«, beschwerte sich Lissi sofort. »Da kommt doch Skippy, das Buschkänguru[5]

»Und um drei Rauchende Colts[6]«, protestierte Norbert.

»Vergesst nicht Big Valley[7]!«, meinte auch Torsten.

»Ach, das fängt erst halb sechs an«, winkte Wolf ab. »Da sind wir doch schon zu Hause. Aber Rauchende Colts schau ich auch immer.«

Gabi hob nur ihre Schultern. »Wir haben keinen Fernseher. Meine Eltern wollen sich den nicht leisten. Wenn wir Samstagabends Einer wird gewinnen[8], Hitparade[9] oder Zum Blauen Bock[10] schauen wollen, besuchen wir immer meine Großeltern.«

»Meine haben auch immer so geredet, bis Vati vor zwei Jahren plötzlich einen zu Weihnachten mitbrachte«, erzählte Lissi. »Du kannst ruhig mal zu mir kommen, wenn was Gutes läuft.«

»Oh, gerne.« Gabi verdrehte kurz die Augen. »Bei uns läuft immer nur das Radio und ich spare jeden Pfennig fürs Kino.«

Lissi, die bisher nicht viel mit Gabriele zu tun hatte, drückte ihr freundschaftlich die Hand.

»Ich gehe auch absolut gerne ins Kino, weil ich die Kinderfilmvorstellungen liebe. Sag mir Bescheid, dann gehen wir das nächste Mal zusammen.«

»Nächsten Sonntag?«

»Ja, gern.«

»Schaut mal, wer da kommt«, bemerkte Wolf plötzlich und richtete sich gespannt auf.

»Die Bischofbande«, sagten alle Willems gleichzeitig.

»Jetzt wird’s lustig«, meinte Jürgen erfreut.

Wolf stand auf und stellte sich in die Mitte des Fußgängerweges. Spontan sprangen die anderen ebenfalls hoch und platzierten sich hinter ihn wie eine Mauer.

Schnellen Schrittes eilte Michael, gefolgt von seiner Bande, auf sie zu.

Schließlich standen sie sich das erste Mal als offizielle Mitglieder verfeindeter Banden gegenüber.

»Hey, Glasner«, begrüßte Wolf ihn, als dieser vor ihn trat. »Das ist mein Revier. Ich will euch von nun an hier an der Milchbar nicht mehr sehen.«

Michael lachte laut auf.

»Das ist nicht dein Ernst. Du spinnst wohl!«

»Nein, das meine ich so, wie ich es sage.«

»Ich zeig dir gleich, wer sich hier nicht mehr blicken zu lassen hat.«

Mit einer Zigarette in der rechten Hand eilte Carla Freymann, die Besitzerin der Milchbar und des einzigen großen Kaufhauses in der Hauptstraße, aus dem Laden hin zu den miteinander kämpfenden Kindern.

»Was ist hier los?«, rief sie erbost über den Radau, die diese kleinen Kinder durch ihren Kampf verursachten.

»Wir haben die Banden übernommen«, teilte Michael ihr stolz mit, während er Wolf im Schwitzkasten hielt.

Schnell boxte ihn Wolf in die Seite und befreite sich aus dem Griff.

»Verschwindet hier und tragt euren Kampf im Wald aus«, knurrte die Ladenbesitzerin die Kleinen an. »Sonst hole ich die Polizei und die steckt euch dann wegen Ruhestörung ins Gefängnis.«

Erschrocken lösten sich die Kinder voneinander und starrten die junge Frau an, die mit in die Hüften gestemmten Händen vor ihnen stand. 

»Los, ab zum Lager«, rief Michael schnell zu seiner Bande.

»Wir auch«, sagte Wolf und schon ein paar Sekunden später waren die Kinder um die nächste Ecke verschwunden.

»Immer diese Banden«, murmelte Carla und zog an ihrer Zigarette. Leider hatte ihre Generation nicht das Glück gehabt, eine der Banden übernehmen zu können. Schade eigentlich, dachte sie sich schmunzelnd. Ich wäre bestimmt eine gute Anführerin geworden. 

Dann drehte sie sich um und ging zurück in die Milchbar. Hier lag noch eine Menge Büroarbeit vor ihr. Und gleich würde Walter, ihr Verlobter, sie abholen. Sie musste sich wirklich sehr beeilen.

»Der Glasner hat aber schön blöd aus der Wäsche geguckt«, sagte Lissi lachend, als sie ein paar Minuten später wieder auf den alten Stühlen im Lager saßen. Dann rutschte sie mit säuerlich verzogenem Mund auf der Sitzfläche hin und her.

»Das geht nicht. Diese Stühle sind total unbequem. Ich frage meinen Vater, ob er uns für das Lager neue kaufen kann«, beschloss sie dann.

»Das wäre echt nett. Meiner hält bestimmt nicht mehr lange«, stimmte Gabi zu. »Schaut her! Da müsste man mit Holzleim ran.«

Wolf betrachtete die wenigen Möbel im Lager ebenfalls kritisch.

»Mir gefällt es hier auch nicht besonders. Ich frage meine Eltern nachher, ob sie uns einen neuen Schrank besorgen können.«

»Dein Vater hat doch eine Sanitärfirma.« Torsten grinste den Anführer breit an, sodass jeder die große Zahnlücke durch die letztens ausgefallenen Milchzähne sehen konnte. »Könnte er uns hier nicht eine Toilette einbauen?«

»Mitten im Wald?« Wolf schüttelte entschuldigend den Kopf. »Zaubern kann er leider nicht. Du musst wohl wie alle unsere Vorgänger alles im Wald erledigen.«

Torsten seufzte laut und brach dann mit dem Rest der Willemsbande in lautes Lachen aus.

Schmunzelnd dachte Felix Jansen, der Klassenlehrer der 1a an das Gespräch, dass er eben im Lehrerzimmer mit seinen Kollegen geführt hatte.

»Nein, ernsthaft?« hatte die Musiklehrerin Isabell Schöne gerufen. »Dass du auch so ein Pech haben musst. Ich prophezeie dir, dass du von nun an nur noch Ärger mit den Kleinen haben wirst.«

»Da hat sie recht«, meinte auch der Sport- und Mathelehrer Heiner Schwarz. »Was war ich froh, als die letzten Bandenmitglieder rüber in die oberen Klassen gekommen sind. Christian und Hannes waren wie Feuer und Wasser, kaum zu bändigen. Man durfte den beiden nie den Rücken zuwenden.«

»Durch die Feindschaft zwischen den Banden gab es ständig Unruhe in der Klasse«, erinnerte sich die Englischlehrerin Renate Wiesen. »Ich bin ja nun schon lange dabei und stehe kurz vor der Rente. In meiner Zeit als Lehrerin habe ich schon mehrere Bandenjahrgänge erlebt. Es ist immer das Gleiche. Die ersten Tage nach der Bandenübernahme gehen noch. Da gewöhnen sich die Kinder erst mal an die neue Situation. Aber sobald sie sich eingelebt haben, fangen sie an, sich bei jeder Gelegenheit gegenseitig zu bekämpfen.«

»Und die Streiche, die sie sich vorzugsweise im Unterricht spielen …«

Felix sah der Musiklehrerin direkt in die hübschen blauen Augen. »Sie spielen sich gegenseitig Streiche? Na, wie schön, dass ich dann nicht mehr das bevorzugte Ziel bin.«

Isabells Wangen röteten sich leicht.

»Das werden sie ja nicht nur in deinem Unterricht machen. Die Unruhe wird sich durch alle Stunden ziehen. An die Hofpause will ich gar nicht erst denken.«

»Danke für die Warnung.« Felix erhob sich von seinem Stuhl und ging zur Tür. »Ich werde mit den Kindern sprechen.«

Die Musiklehrerin folgte ihm schnell, und gemeinsam schritten sie den Gang entlang zu ihren nicht weit voneinander liegenden Klassenräumen.

»Wenn du Hilfe brauchst oder einfach nur reden möchtest, kannst du dich natürlich gerne an mich wenden«, begann Isabell schließlich zögernd, während sich die Wangen noch mehr verfärbten.

Felix sah sie lächelnd von der Seite an. Seit Wochen hatte er sich den Kopf darüber zerbrochen, wie er seiner hübschen Kollegin näherkommen könnte. Sie direkt nach einer Verabredung zu fragen wäre ihm nie eingefallen, schließlich sahen sie sich tagtäglich. Wenn sie Nein gesagt hätte, hätte sich die weitere Zusammenarbeit sicher peinlich gestaltet.

»Sehr gerne. Wie wäre es mit einem Kaffee in der Milchbar heute Nachmittag? Dann kann ich dir von meinem ersten Tag als Klassenlehrer der neuen Bandengeneration berichten?«

»Ja, das lässt sich einrichten. Sagen wir sechzehn Uhr?«

»Perfekt. Dann bis später.« Isabell betrat mit beschwingtem Schritt den Raum, in dem sie nun die dritte Klasse in Musik unterrichten würde.

Felix sah ihr sehnsüchtig nach, dann ging er weiter zu seiner 1a.

»Herr Jansen kommt!«, hörte er dann schon von Weitem einen der Jungen aufgeregt in den Klassenraum rufen. Also hatte das Chaos wohl schon begonnen. Sonst stand niemals jemand Schmiere[11], um die Klasse vor seinem Ankommen zu warnen.

Er dachte an Isabell und wie sie verlegen seine Einladung angenommen hatte. Voller Elan betrat er die Klasse und lächelte, als er die Kleinen still auf ihren Stühlen sitzen sah. Mit auffallend unschuldiger Miene sahen ihn die Mitglieder beider Banden an, und auch der Rest der Klasse schien heute unglaublich brav zu sein.

Soweit er es beurteilen konnte, schien im Klassenraum alles in Ordnung zu sein. Sogar die Tafel war ordentlich abgewaschen worden.

Vielleicht hatten seine Kollegen übertrieben, um ihm Angst einzujagen? Ja, das musste es sein. Oh man, und dabei war heute nicht mal der erste April …

Hoffentlich sieht Herr Jansen nicht den feuchten Fleck an der Decke, dachte Lissi ängstlich. Mist, warum musste der nasse Schwamm auch so gut fliegen! Wütend drehte sie sich zu Michael, dem Auslöser des Problems. Erst hatten er und Wolf miteinander gestritten und dann mussten sie ausgerechnet vor der Tafel miteinander kämpfen.

»Ja, den blöden Glasner schaffst du!«, rief Lissi von ihrem Platz aus lachend. Michael, der das gehört hatte, griff spontan nach dem Schwamm, der neben ihm auf der Tafelablage lag, und schleuderte ihn in ihr Gesicht.

Angewidert versuchte sie, die Erinnerung an den nach Kreide und abgestandenem Wasser riechenden gelben Schwamm zu verdrängen. Sie hatte das Gefühl, als ob ihr Gesicht noch immer danach stinken würde, obwohl sie sich direkt gewaschen hatte. Das würde sie dem Bischofanführer nie verzeihen! Dabei hatte sie diesen Jungen immer von allen am meisten gemocht.

Schnell hatte sie mit ihrem Ärmel über ihre Augen gerieben und dann das widerliche Ding zurück auf Michael geworfen.

Dieser hatte mit der Hand das Geschoss abgelenkt, sodass es hinauf zur Decke geflogen war und dort einen großen nassen Fleck hinterlassen hatte.

Herr Jansen begann mit dem Deutschunterricht.

Heute hatte er geplant, mit seinen Schützlingen kleine einfache Sätze aus dem vorderen Teil der Fibel[12] zu lesen.

Auf seine Anweisung hin öffneten die Kleinen artig ihre Schulbücher, doch während er sie dabei beobachtete, ließ ihn irgendetwas stutzen.

Als er Gabriele bat, den ersten Satz vorzulesen, wurde ihm klar, was es war. Ständig sahen die Kinder, ihrer Meinung nach vermutlich unauffällig, hinauf zur Raumdecke.

Jetzt nur nicht falsch reagieren, mahnte er sich. Felix ging zu seinem Stuhl und ließ sich langsam darauf nieder. Unauffällig schielte er nach oben und entdeckte den fetten Wasserfleck, der schon dabei war, zu trocknen.

Er ahnte, was passiert war, doch nun wusste er nicht, wie er darauf reagieren sollte. Schimpfen und Strafen verteilen? Das war nicht sein Stil und würde hier auch nicht weiterhelfen. Seine Klasse war, wie er heute beobachten konnte, eine eingeschworene Gemeinschaft geworden. Und das, obwohl in ihr zwei verfeindete Banden gegeneinander kämpften.                             

»Holger, den nächsten Satz bitte!«, sagte er schnell, nachdem Gabi ihren Teil gelesen hatte.

Als die Pausenklingel ertönte, beendete er den Unterricht. Die Kinder sprangen von ihren Stühlen auf und liefen zur Tür. Jetzt war die erste Hofpause und sie konnten es alle kaum erwarten, das Schulgebäude zu verlassen.

»Wolf und Michael bleiben bitte noch kurz bei mir.«

Während ein Teil der Kinder den Raum verließ, blieben die Mitglieder der beiden Banden zögernd an der Tür stehen. Sie wollten ihren Anführern in diesem kritischen Moment zur Seite stehen.

Michael und Wolf traten mit hängenden Köpfen zu Herrn Jansen an den Lehrerpult.

9. Kapitel

14. Mai 1976

Michael beobachtete, wie seine Chefin hinter der Theke recht viel Wodka aus einem Flachmann in ihren Kaffee schüttete und diesen dann schnell austrank. Als sie seinen verwunderten Blick bemerkte, winkte sie nur unwirsch ab. 

Da gerade niemand in der Bar war, setzte Carla sich auf einen Barhocker und beobachtete ihren Angestellten bei der Arbeit.

»Du hast eine Schramme im Gesicht. Hast du dich wieder mit den Willems geprügelt?«

»Ja, wir hatten im Wald einen kleinen Zusammenstoß.«

»Klar, warum frage ich überhaupt.«

Carla griff über die Theke nach der Wodkaflasche und goss einen großen Schluck in ihre Tasse. Auch die trank sie in einem Zuge aus.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Michael schließlich leise und ließ die Flasche im Kühlschrank verschwinden.

»Er will sich scheiden lassen, weil ich keine Kinder bekommen kann«, begann sie schließlich leise zu erzählen. »Er schwor mir die ewige Liebe und die Hochzeit hat mehrere tausend Mark gekostet. Es gab das ganze Programm mit einem Meer an Blumen, Kirche, Kutsche und einer riesigen, mehrstöckigen Torte. Danach waren wir in den Flitterwochen an den Niagarafällen. Und nun haut er beim ersten Problem ab. Als ob diese Diagnose nicht schon schlimm genug für mich wäre. Ich wollte immer Kinder und ich kann sie mir auch leisten. Selbst mein nichtsnutziger Bruder hat einen Sohn hinbekommen und der ist der Letzte, der ein Kind haben sollte. Er hat ihn Justin genannt. Was für ein dämlicher Name.«

»Das finde ich ziemlich gemein«, stimmte Michael zu, während er Gläser spülte und diese dann mit einem Handtuch trocken rieb.

»Ich dachte, es wäre die große Liebe. Ach, was solls.« Carla griff in ihre Handtasche, die vor ihr auf dem Tresen lag, nahm den Flachmann heraus, goss sich den restlichen Wodka in die Kaffeetasse und leerte sie in ein paar Sekunden.

Michael überlegte, ob er etwas sagen sollte, entschied sich jedoch dagegen.

»Fehlt nur noch, dass ich ihm Unterhalt zahlen soll. Dieser Idiot hat schon so etwas in der Art angedeutet.«

»Er will auch noch Geld?«, rief Michael verblüfft aus. »Mit welchem Recht?«

»Das frage ich mich auch. Es war damals sehr bequem, sich eine wohlhabende Frau zu nehmen und dann nicht mehr auf dem Bau arbeiten zu müssen. Die fehlenden Rentenjahre wirft er mir nun aber vor.« Carla stand auf, lief erneut hinter den Tresen, griff nach einer Flasche Cognac und goss sich die Tasse damit randvoll.

Dann trank sie einen weiteren großen Schluck.

Stirnrunzelnd beobachtete Michael sie dabei. In diesem Moment öffnete sich die Tür und ein paar Mädchen betraten mit ihren Freunden Händchen haltend die Bar.

Carla betrachtete die jungen Gäste und schnaubte abfällig.

»Hören Sie«, sagte Michael und ließ schnell die Cognacflasche unter dem Tresen verschwinden. »Wie wäre es, wenn Sie jetzt nach Hause gehen, und ich kümmere mich hier um alles? Den Schlüssel bringe ich Ihnen dann nach Feierabend vorbei? Ich werfe ihn in Ihren Briefkasten.«

Carla, die die Wirkung des Alkohols bereits spürte, lächelte ihn spöttisch an.

»Du willst mich wohl vor einer peinlichen Situation bewahren? Was habe ich da nur für einen vorbildlichen Mitarbeiter! Kaum vierzehn und schon so verständig. Hat deine Mama nichts dagegen, wenn du in der Woche erst nach neun Uhr nach Hause kommst?«

»In zwei Monaten werde ich fünfzehn. Meine Schwester kommt heute sicher hier noch rein. Sie kann Bescheid sagen.«

»Also gut«, gab sich Carla geschlagen. »Aber wehe, es gibt Probleme mit der Kasse, oder du lässt das Licht oder die Kaffeemaschine an.«

»Keine Sorge«, beruhigte Michael sie und drückte ihr die Handtasche in die Hand.

Das bedeutete drei Stunden länger arbeiten. Schnell überschlug er im Kopf, wie hoch dieser zusätzliche Lohn plus Trinkgeld war.

Nicht schlecht, dachte er vergnügt.

 

17. Mai 1976

Verträumt folgte Lissi mit den Augen den Staubfünkchen, die auf schrägen Sonnenbalken zum Fenster hin schwebten.

Mit halbem Ohr lauschte sie Frau Seidels monotoner Stimme, die über die Biografie von Heinrich von Kleist[13] und die von ihm verfassten Werke dozierte. Lissi seufzte leise. Die Klasse würde ein Werk von ihm lesen müssen. Sie hatte keine Ahnung, wann sie dafür die Zeit aufbringen sollte.

Kurz vor Stundenende klopfte es laut an der Tür und nur eine Sekunde später betrat der Direktor den Raum.

Mit wichtiger Miene entschuldigte er sich bei der Lehrerin für die Störung, dann drehte er sich zu der Klasse und ließ seinen Blick über die Kinder gleiten.

»Ich habe unsere Schule bei dem landesweiten Tischtenniscup der Schulen angemeldet. Dort treten ausgewählte Schüler, jeweils zwei Mädchen und zwei Jungen, für ihre Schulen gegeneinander beim Tischtennis an. Erst spielen die besten Schulen des Bundeslandes gegeneinander und der Gewinner tritt dann gegen die Sieger der anderen Bundesländer an. Na, ist das nichts? Der finale Gewinner bekommt einen Pokal, den ich wirklich gerne in unserer Vitrine sehen würde, und ein kleines Preisgeld, das in die Verschönerung der Schule und in eure nächste Klassenfahrt fließen würde. Seit ich euch auf dem Schulhof spielen sehe, kämpfe ich mit mir, ob ich es machen soll oder nicht, schließlich ist mir bewusst, dass ihr eure Bandendifferenzen so austragt - dem Herrn sei Dank! Ich denke, ihr seid nun alt genug, um über euren Streit hinwegzusehen und für unsere Schule in diesem deutschlandweiten Turnier anzutreten.«

»Sie halten uns für gut genug?«, fragte Wolf geschmeichelt.

»Auf jeden Fall.«

»Wer von uns soll zu dem Cup fahren?«, rief Torsten.

»Jeder Direktor schickt die vier Besten seiner Schule, zwei Mädchen und zwei Jungen.«

»Wer entscheidet, wer von uns die Besten sind?«, wollte Biggi wissen.

Der Direktor nickte bedächtig.

[1] Kinderspiel, auch als Gummihopse, Gummihoppe oder Schlüpfergummi bekannt. Spielutensil ist ein ca. 3 Meter langes Gummiband, mindestens 3 Teilnehmer

[2] Wassereis mit Orangengeschmack, seit 1959 bei Langnese erhältlich

[3] Domino-Eis, Milcheis mit Vanillegeschmack, Schokoglasur und Waffe, seit den 50er Jahren bei Langnese erhältlich

[4] Waffeleis in Vanille, Erdbeere und Schokolade. Seit den 50er Jahren bei Lagnese und bei Nestlé Schöller (unter dem Namen Sandwich) erhältlich

[5] Originaltitel Skippy, australische Kinderfernsehserie. Erscheinungsjahre 1967-1969

[6] Originaltitel Gunsmoke, US-amerikanische Western-Fernsehserie, Erscheinungsjahre: 1955-1975

[7] Originaltitel The Big Valley, US-amerikanische Western-Fernsehserie, Erscheinungsjahre 1965-1969

[8] Quiz Sendung der ARD, Erscheinungsjahre 1964-1966, 1968-1969, 1979-1987, 1998, 2014, Moderation 1964-1966, 1968-1969, 1979-1987: Hans-Joachim Kulenkampff, 1998: Jörg Kachelmann, 2014: Jörg Pilawa

[9] Musiksendung. Erscheinungsjahre 1969-2000, Moderator von 1969-1984: Dieter Thomas Heck, 1985-1989: Viktor Worms, 1990–2000: Uwe Hübner

[10] Unterhaltungssendung des Hessischen Rundfunks im Deutschen Fernsehen, Erscheinungsjahre 1957-1987, Moderation 1957-1965: Otto Höpfner, 1966-1987: Heinz Schenk und Lia Wöhr

[11] Schmiere kommt aus dem Jiddischen, wo "schimro" so viel heißt wie "Wache" oder "Bewachung".

[12] Leicht verständliches Schulbuch zum Lesenlernen

[13] Deutscher Dramatiker, Erzähler, Lyriker und Publizist, (*10. oder 18. Oktober 1777, † 21. November 1811)

1. Kapitel

 

Juni 1977

Lächelnd musterte Michael Glasner die sechs kleinen Kinder, die vor ihm standen.

Er spürte die Freude der Kleinen darüber, dass sie nun die Bandentradition weiterführen durften.

»Setzt euch doch!«, begann er nach kurzem Zögern. Natürlich hatte er sich in den letzten Stunden Gedanken darüber gemacht, wie er die neue Generation einweisen würde, doch nun stand er hier und seine sorgfältig ausgearbeitete Rede war ihm entfallen.

»Wisst ihr schon, wer Anführer werden soll?«, fragte er, nachdem jeder einen Platz am Tisch eingenommen hatte.

»Nein«, schellte ihm die Antwort von allen entgegen.

»Na gut, das könnt ihr ja klären, wenn ich weg bin.« Michael kratzte sich kurz am Kopf. Was Wolf in diesem Moment wohl den neuen Willems erzählte? Schnell fokussierte er seine Gedanken wieder auf die aktuelle Aufgabe.

Er ging zum Schrank und holte zwei Bücher hervor.

Diese legte er dann behutsam auf den Tisch.

»Das sind die Bücher der Bischofbande. Behandelt sie immer wie ein Heiligtum. Hier im Bischofbuch steht alles Wichtige über die Bande und in der Chronik dürft ihr selbst euren Bandeneintritt, gute Streiche und die Weitergabe notieren. Es wäre gut, wenn ihr möglichst ordentlich und ohne Fehler schreibt.«

»Na, da bin ich raus«, bemerkte Christoph breit grinsend.

»Das Lager ist soweit in einem guten Zustand. Dennoch müsst ihr ab und zu Reparaturen durchführen, Bretter austauschen oder das Dach flicken, wenn Wasser reintropft. Wenn ihr etwas nicht könnt, fragt eure Eltern. Die helfen euch bestimmt.«

Michael schlug im Bischofbuch die Bandengesetze auf. »Es ist wichtig, dass ihr die traditionelle Feindschaft mit den Willems weiterführt. Wie ihr das Aufeinandertreffen mit denen gestaltet, ist eure Sache. Ich bitte euch nur, es nicht zu übertreiben. Es gibt klare Grenzen, die es nicht zu überschreiten gilt. Wir haben viele Konflikte durch Tischtennismatche klären können. Gibt es noch Fragen?«

Alle Kinder schüttelten schüchtern ihre Köpfe.

Michael griff in seine Jackentasche und legte die Lagerschlüssel auf den Tisch.

»Falls der gewählte Anführer doch noch Fragen haben sollte, kann er sich jederzeit an mich wenden. Ich wünsche euch alles Gute und viel Spaß als Bischofbande.«

Der ehemalige Anführer ließ nochmal einen letzten Blick durch das Lager gleiten, wandte sich dann zur Tür und verließ die Laube.

Erwartungsvoll beobachtete Jessica Bischof die anderen fünf Kinder. Charlotta Peters, ihre beste Freundin und Katja Breuer kannte sie ja schon, doch die Jungen waren ihr noch immer sehr fremd.

Natürlich waren sie in der gleichen Klasse, aber sie gab sich nur mit den Mädchen ab.

Da waren noch Christoph Arens, Patrick Thomas und Steffen Hintz.

»Wir müssen jetzt einen Anführer wählen«, bemerkte Charlie unsicher und setzte sich an den großen Tisch. Scheu folgten ihr die anderen Kinder.

»Also ich bin dafür, dass Jessica Anführerin wird, schließlich hat ihr Vorfahre die Bande gegründet«, sagte Katja nach einigem Zögern.

»Ich?« Verlegen errötete Jessica. »Nein, das kann ich nicht. Ich will nicht Anführer werden.«

»Wer würde es denn freiwillig machen?«, fragte Christoph.

Nur Steffen meldete sich.

»Du willst Anführer werden?« Freundschaftlich stieß Patrick seinen Tischnachbarn an. »Das bekommst du sicher gut hin.«

»Also ich habe auch nichts dagegen«, bemerkte Christoph. »Wählen wir Steffen?«

Alle nickten, und so wurde Steffen Hintz der neue Anführer der Bischofbande.

»Schaut mal, die knutschen da draußen«, rief Patrick, der von seinem Stuhl aus den besten Blick aus dem Fenster hatte, plötzlich.

Die Bischofbande lief aus dem Lager und beobachtete erst verwundert, dann lachend den ehemaligen Anführer der gerade ziemlich leidenschaftlich ein Mädchen küsste.

»Wie im Film«, fand Charlotta seufzend.

»Das ist die Lissi Neumann«, flüsterte Jessica ihren Freunden zu. »Sie war bei den Willems.«

Lissi und Michael hatten das Kichern der Kleinen gehört. Schnell trennten sich ihre Münder voneinander, dann liefen sie Hand in Hand in den Wald hinein.

»Bäh, das passiert mir garantiert nie.« Steffen schüttelte sich kurz. »Wie kann man sich als Bischof in eine Willem verknallen?«

Ratlos hoben alle die Schultern. Dann gingen sie gemeinsam zurück in das Lager, wo Steffen dann seinen ersten Eintrag in die Chronik der Bischofbande hineinschrieb.

Auf dem Heimweg musterte Charlie Jessica von der Seite. »Ist dir klar, dass du hättest Anführerin werden können? Diese Chance bekommst du nie wieder. Weshalb hast du dich nicht getraut?«

»Ich will nicht diese Verantwortung tragen. Wer weiß, wen die Willems wählen?«

»Patricks Schwester ist bei denen. Ob die beiden sich auch zu Hause streiten werden? Dumme Frage! Sie streiten sich, seit ich sie kenne. Wahrscheinlich wird sich bei ihnen nicht viel ändern.«

»Ja, die armen Eltern.«

»Da sind sie!«, hörten die beiden Mädchen plötzlich jemanden rufen, und in Sekundenschnelle waren sie von den Willems umringt.

»Wer ist euer Anführer?«, herrschte Justin Brehm Jessica herablassend an.

Verängstigt starrte Jessica ihn an, brachte aber kein Wort hervor.

Wie immer war er armselig gekleidet, seine dunklen Haare waren zu lang, die zerkratzten Schuhe ungeputzt. Niemals lächelnd blickte er ständig teilnahmslos vor sich hin und doch schienen ihn die Willems als Anführer gewählt zu haben.

Vielleicht lag es an dieser seltsam melancholischen Stimmung, die er ausstrahlte und die die anderen Kinder faszinierte? Mitleid war es sicher nicht.

Es war einfach so, dass er trotz seiner ärmlichen Erscheinung sehr Respekt einflößend war.

Alles in allem war er der ideale Anführer.

»Hey Bischof, hat es dir die Sprache verschlagen?«, rief Justin nun hochmütig.

»Steffen ist unserer Anführer«, antwortete Charlotta ebenso hochmütig, ergriff schnell Jessicas Hand und zog sie von den Willems fort.

»Mensch Jessi, was war gerade mit dir los? Weshalb hast du nichts gesagt?«, knurrte sie dabei böse.

»Sie haben Brehm gewählt.« Zögernd wandte sich Jessica noch einmal kurz zu den lachenden Willems um. »Ich habe Angst vor ihm, er ist immer so seltsam.«

»Das musst du dir nun aber schnell abgewöhnen! Als echte Bischof wirst du von nun an …«

»Ein Angriffsziel sein«, beendete Jessi leise Charlies Satz.

»Sie haben Justin Brehm gewählt«, war das Erste, was Jessica am nächsten Morgen in der Schule zu Steffen sagte.

»Ihn? Verdammt, das hatte ich befürchtet. Er wird kein leichter Gegner werden.«

Jessica zustimmend, drehte er sich zu dem neuen Willemsanführer um. Bewegungslos saß er in seiner Schulbank und starrte mit seinen bernsteinfarbenen Augen zur Tafel.

Solange Jessica sich erinnern konnte, hatte sie Angst vor ihm gehabt. Er war so anders als die anderen Kinder und dann besaß er diese verwirrend hellbraunen Augen, die sich nun auf sie richteten.

Ohne das Gesicht zu verziehen, blickte er sie an, ganz so, als würde er ihre Gedanken lesen können.

Erschrocken zuckte sie zusammen und wandte sich von ihm ab.

»Ob Steffen gegen ihn ankommen wird?«, flüsterte sie Charlie ins Ohr.

»Na, das hoffe ich doch«, antwortete Charlie. »Bald wird es zur ersten Auseinandersetzung kommen, dann werden wir es sehen.«

 

Am späten Nachmittag trafen die beiden Banden am See das erste Mal aufeinander.

Nervös betrachtete Jessica ihre neuen Feinde, Robert Tillner, Tina Thomas, Dirk Förster, Susan Henke und Stephan Gilgenbach.

Mit den meisten hatte sie schon zusammen im Sandkasten gespielt, und Tina hatte sie eigentlich immer besonders gemocht.

»Kein Wunder, dass sie dich gewählt haben«, sagte Justin ohne jegliche Regung im Gesicht. »Der Rest deiner Bande ist nur ein jämmerlicher Haufen.«

»Dasselbe könnte ich auch über dich sagen.« Spöttisch verzog Steffen seinen Mund. Ihm war es egal, dass Brehm nie lachte und immer versuchte, einschüchternd zu wirken. Das war doch alles nur Fassade.

Nur Sekunden später fielen die beiden Anführer übereinander her.

»Steffen macht sich gut«, bemerkte Christoph und Charlie nickte zustimmend.

Auch Jessica beobachtete interessiert die beiden kämpfenden Jungen.

Justin war verdammt gut. Es war, als würde er um sein Leben kämpfen, doch Steffen wehrte jeden Faustschlag gekonnt ab. Dann war plötzlich alles vorbei.

Steffens Hände und sein Gesicht waren voller Kratzer, und Justin wischte mit einem Ärmel über seine blutende Nase.

»Oh nein«, hörte Jessica ihn tonlos flüstern, während sie seine abgeknabberten Fingernägel betrachtete. »Das fehlt mir gerade noch.«

Doch schon ein paar Sekunden später rief er mit selbstsicherer Miene seine Bande zusammen und verschwand mit ihnen im Wald.

»Hey, Steffen, dem hast du es aber gezeigt!«, rief Katja begeistert.

»War es sehr schwer?«, fragte Jessica bewundernd.

»Es geht«, erwiderte Steffen strahlend. »Mit etwas Übung schaffe ich ihn locker.«

Die Gestalt, die am nächsten Tag in der Schule erschien, wirkte trauriger als sonst.

Seine Oberlippe war aufgeplatzt und ein großer blauer Fleck zog sich über seine rechte Wange.

»War Steffen das?«, fragte Patrick verwundert.

»Er sieht heute ramponierter aus als gestern Nachmittag«, meinte auch Christoph.

»Ich weiß nicht, schon möglich«, gab Steffen zurück. »Aber eigentlich blutete ja nur seine Nase.«

Neugierig drehte sich Jessica, die schon an ihrem Tisch saß, zu Justin um.

Er saß da wie immer, doch seine ganze Haltung verriet einen großen Zorn, der ihr Mitleid erweckte.

Er sah so einsam und verlassen aus.

Sein Blick fiel auf sie, seine bernsteinfarbenen Augen verengten sich und sein Gesicht verzog sich hasserfüllt.

Wieder einmal erschrak sie heftig und senkte schnell ihren Kopf.

Nach der Schule half sie ihrer Mutter beim Lebensmitteleinkauf.

Nur schnell vorbei, dachte Jessica und schielte kurz zu dem alten, halb verfallenen Haus in der Schäferstraße. Der Rasen davor war verwildert, die Farbe der Fassade abgebröckelt und in nur wenigen Fenstern hingen vergilbte Gardinen.

»Sieh mal, dort vorn ist Tante Ruth. Hallo Ruth!«, rief ihre Mutter fröhlich und winkte ihre Schwester zu sich.

»Oh, Mama, können wir nicht weitergehen?«, murmelte Jessica, während sie ängstlich zu dem alten Haus blickte.

»Weshalb?« Lächelnd umarmte Frau Bischof ihre Schwester. »Ruth, was machst du denn hier? Ich dachte, dass du noch in Berlin bist?«

»Oh, Mutter geht es wieder besser. Es war nicht nötig, dass ich dort noch länger bleibe.«

Verdammt, dieses Gespräch würde sich noch eine Weile hinziehen. Seufzend blickte Jessica wieder zu dem alten Haus.

Dort wohnte Justin Brehm mit seinem ständig betrunkenen Vater. Würde sie dort wohnen müssen, wäre sie sicher auch so missmutig. Zu allem Unglück sah sie, wie Justin eins der verschmutzten Fenster öffnete. Schnell huschte sie hinter ihre Mutter und hoffte, dass er sie nicht gesehen hatte.

Justin zog die alte Gardine zurecht und beobachtete dabei seine Feindin Jessica Bischof. Ah, sie hatte ihn gesehen und versuchte nun, sich vor ihm zu verstecken. Das war ja wieder mal typisch. Selbst für ein Mädchen war sie viel zu ängstlich und es war fast schon zu einfach, sie einzuschüchtern.

Er musste sie nur düster anschauen und schon war sie wie ein Kaninchen auf der Flucht.

Wenn er ein Bischof wäre, würde er ganz anders auftreten … aber nein, er musste ja leider in diese, seine Familie hineingeboren werden.

Traurig sah er sich in seinem schäbigen und lieblos eingerichteten Kinderzimmer um. Selbst die Armut würde er ohne Probleme hinnehmen, wenn nur seine Mutter wiederkommen oder sein Vater keinen Alkohol mehr trinken würde.

»Jetzt hört endlich auf, mit mir zu diskutieren!«, rief Frau Thomas eine Woche später verzweifelt. »Ihr feiert euren Geburtstag zusammen! Wisst ihr eigentlich, wie sehr mich eure Banden nerven?«

»Wir haben dich gewarnt.« Patrick warf Tina noch einen anklagenden Blick zu und lief dann zur Haustür, an der eben die ersten Gäste geklingelt hatten.

»Hey Patrick!«, rief Charlie fröhlich. »Ist schon jemand da?«

»Alles Gute«, sagte Jessica lächelnd.

»Nein, ihr seid die Ersten«, antwortete Patrick. »Geht schon mal ins Wohnzimmer!«

Aus den Augenwinkeln sah er Justin den Weg zum Haus kommen. Schnell zog er die Mädchen in den Flur und warf vor Justins Nase die Tür zu.

»Sehr witzig«, knurrte dieser erbost und klingelte kurz.

Nach ein paar Sekunden öffnete Tina ihm. »Hallo Justin. Du bist hier der erste von den Willems. Geh doch schon mal ins Wohnzimmer!«

»Hallo Tina, ich wünsche dir alles Gute zum Geburtstag.« Langsam schlenderte er zum Wohnzimmer, ließ sich gegenüber der Bischof in einen Sessel fallen und musterte sie eingehend. Wie sehr er sie doch hasste! Dieses Mädchen symbolisierte alles, was er verabscheute und ersehnte, eine liebevolle Familie, ein behütetes Leben ... Nein, sie war die Bischof, das war das allerschlimmste.

Sie war sehr hübsch mit ihren langen dunkelblonden Haaren, den graugrünen Augen, der perfekten Nase und den schön geschwungenen Lippen. Wenn er sich dagegen sah …

Er hatte sich nicht mal ein Geschenk für Tina leisten können. Zum Glück verstand sie das.

»Was starrst du mich so an?«, fauchte er sie zornig an.

Die Augen vor Entsetzen aufgerissen, fuhr Jessica hoch und lief zu dem Sessel, auf dem Charlotta saß.

»Ich will hier weg«, flüsterte sie leise in ihr Ohr.

»Wir dürfen keine Schwäche zeigen«, erwiderte Charlie ebenso leise.

»Du hast recht«, murmelte Jessica und kehrte zum Sofa zurück. Warum kam Steffen nicht endlich, und wo blieben die anderen?

»Was ist mit dir los?«, fragte Justin spöttisch. »Deine Vorfahren würden sich im Grabe umdrehen, wenn sie dich Heulsuse sehen könnten.«

»Lass sie in Ruhe Brehm, sie ist dir nicht gewachsen!«, fauchte Charlie und richtete sich auf. »Das müsste sogar dir zu schäbig sein.«

Sie ließ ihren Blick langsam über ihn gleiten und ihre Miene spiegelte deutlich wieder, wie armselig sie seine Gestalt fand. 

Auch Jessica musterte ihn. Sein dunkles, welliges Haar war wieder zu lang, das Shirt nicht sauber, die Hosen nur schlecht an den Knien geflickt und auch die Schuhe hatten dringend eine Reparatur nötig.

»Was weißt du denn, Peters?«, erwiderte Justin hasserfüllt. »Die Bischof ist mehr als schwach.«

»Vielleicht hat sie keine Führungsqualitäten«, gab Charlie zu. »Dennoch besitzt sie etwas, was du nie haben wirst.«

»Und das wäre?«

»Wenn du zu blind bist, um das zu sehen, kann ich dir auch nicht helfen. Jessi ist etwas ganz Besonderes und viel zu gut für dich.«

Errötend wich Jessica Justins prüfendem Blick aus. Liebend gerne hätte sie etwas sagen und Justins Anfeindungen etwas entgegensetzen wollen, doch sie konnte es nicht. Wie sie ihre Sensibilität ... oder war es doch Feigheit, verabscheute.

Voller Panik sah sie, wie Justin auf sie zukam und direkt vor ihr stehen blieb.

»Was soll an dir schon Besonderes sein?«, fragte er mit gefährlich ruhiger Stimme. »Du bist der größte Feigling, den ich kenne.«

Steffen, wo bist du, fragte sich Jessica.

Krank vor Entsetzen schloss sie ihre Augen. Vielleicht würde er ja verschwinden, wenn sie nur fest daran glaubte?

Es war so einfach, Jessica Bischof in die Defensive zu bringen. Sie besaß kein bisschen Mumm in den Knochen.

Spöttisch stieß er mit einer Hand gegen ihre Schulter. »Du bist eine Schande für deine Bande.«

Sie war wirklich keine Herausforderung.

Aus den Augenwinkeln sah er, wie ihre Freundin ankam und ihn wegschubsen wollte.

Justin packte sie an ihrem rechten Handgelenk und schleuderte sie von sich. Charlie stolperte ein paar Schritte zurück und blickte ihn vorwurfsvoll an. »Warte nur, bis Steffen kommt.«

»Meinst du, ich habe Angst vor ihm?« Sein wütender Blick richtete sich nun wieder auf Jessica. »Hey Feigling, sag doch auch mal ein Wort. Aber nicht mal das kannst du!«

Verängstigt wich Jessica vor ihm zurück. Sie hasste sich für ihre Mutlosigkeit, dennoch war sie nicht in der Lage, etwas dagegen zu unternehmen.

Tränen traten in ihre Augen und liefen unaufhaltsam über ihre Wangen.

Erleichtert registrierte sie, dass die Zimmertür sich öffnete und die restlichen Bandenmitglieder lachend und laut durcheinanderredend das Zimmer betrat.

Schnell wischte sie über ihre Augen und lief zu Steffen.

»Da bist du ja endlich«, seufzte sie erleichtert und klammerte sich Hilfe suchend an seinen Arm.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte der Bischofanführer besorgt und blickte, die Stirn runzelnd, zu Justin Brehm, der nun umringt von seiner Bande, nur wenige Meter entfernt stand.

»Nein, Brehm ist fast auf Jessi losgegangen«, fauchte Charlie wütend. »So schlimm habe ich ihn noch nie erlebt.« Kurz erzählte sie, was geschehen war.

»Das wird er büßen!«, schwor Steffen und drückte Jessica kurz an sich. »Begib dich nie wieder allein in seine Nähe!«

»Nein, das werde ich auf keinen Fall.«

Wenig später saßen die beiden Banden an einer langen, festlich gedeckten Tafel, aßen Kuchen und tranken Kakao.

»Sieh dir nur Brehm an!«, flüsterte Charlie noch immer erbost. »Er sitzt da wie ein König und lässt sich von seiner Bande feiern.«

»Ich will nicht zu ihm sehen«, erwiderte Jessica leise. »Er ist so schrecklich.«

Dennoch glitten ihre Augen zu ihm. Auch Justin sah in ihre Richtung, und ihre Blicke trafen sich kurz.

Erschrocken rückte sie näher zu dem neben ihr sitzenden Steffen und berührte sanft seinen Arm. »Er schaut her. Ich habe keine Ahnung, wie ich reagieren soll.«

»Du machst gar nichts«, flüsterte Steffen und blickte zu Justin, der Jessica noch immer grimmig anstarrte.

Verärgert nahm er seine mit einem Stück Kuchen beladene Gabel, hielt sie wie ein Katapult und schleuderte das cremige Stück in Justins Gesicht.

Überrascht und nicht wenig entsetzt warteten nun alle Bandenmitglieder auf eine Reaktion von Justin.

Der Willemsanführer nahm ebenfalls ein Stück Kuchen und warf es voller Wucht in Steffens Gesicht.

»Tortenschlacht!«, rief Charlie begeistert und tatsächlich flogen nur wenige Sekunden später die ersten Kuchenstücke durch das Zimmer.

9. Kapitel

Eine Woche später begannen die Sommerferien.

Das wurde am Samstagabend natürlich ausgiebig am See gefeiert.

»Kommst du mit ins Wasser?«, fragte Charlie.

»Ja, auf alle Fälle«, antwortete Jessica und zog ihr Kleid aus. In weiser Voraussicht hatte sie schon zu Hause ihren Badeanzug angezogen. Kurz überlegte sie, ob es besser wäre, die Haare zu einem Dutt zu binden, aber schnell verwarf sie den Gedanken. Es war jetzt gegen einundzwanzig Uhr, doch es mussten noch mindestens achtundzwanzig Grad sein. Die nassen Haare würden also schnell trocknen.

Zusammen mit Charlie lief sie in den See, bis das angenehm kühle Wasser an ihre Oberschenkel reichte. Dann tauchte sie schnell unter. Sekunden später kam sie wieder hoch und strich sich die langen Haare nach hinten. Plötzlich bemerkte sie, dass viele Jungen vom Strand aus zu ihr blickten.

»Oh, Mist«, entfuhr es ihr. Schnell überprüfte sie den Sitz ihres Badeanzugs. Er saß aber an allen Stellen richtig.

»Was gaffen die denn so?«, fragte sie Charlie, die sich neben ihr auf dem Rücken im Wasser gleiten ließ. Charlotta lachte kurz auf. »Ich denke, dass sie dich hübsch finden.«

Verwundert schielte Jessica noch mal zum Strand. Selbst Brehm saß auf einem Baumstamm, der an das Wasser gerollt worden war, und blickte zu ihr.

»Lass uns etwas schwimmen. Diese Aufmerksamkeit ist mir peinlich«, schlug Jessica vor und glitt zurück in das Wasser.

Justin saß zusammen mit Dirk und Stephan auf einem Baumstamm. Mit den Augen verfolgten sie Jessica, die sich soeben die langen, nassen Haare nach hinten strich.

»Von diesem Bild ein Poster«, bemerkte Stephan. »Das würde ich mir an die Wand hängen.«

»Ja, sicher«, erwiderte Dirk lachend. »Ich kann mir schon vorstellen, in welchen Situationen du es näher betrachten würdest.«

Erbost sprang Justin auf und verteilte an die beiden Willemsmitglieder einen festen Klapps auf den Hinterkopf.

»Ich will nicht, dass ihr so über die Bischof sprecht«, sagte er dabei zornig.

»Schon klar, wir sollen sie hassen«, erwiderte Dirk, während er sich über den schmerzenden Hinterkopf strich. »Aber du musst schon zugeben, dass sie ziemlich heiß ist.« Stephan nickte zustimmend.

»Ich vergesse mich gleich!«, fuhr Justin die beiden an. »Hier gibt es genügend Mädchen, die ihr heiß finden könnt.«

»Ist ja schon gut«, sagte Stephan ruhig. »Komm mal wieder runter.«

Er zog Dirk mit sich zurück zur Party.

Kopfschüttelnd ließ sich Justin wieder auf dem Baumstamm nieder und suchte mit den Augen nach Jessica.

Verdammt, dieses Bild, wie sie mit den nassen Haaren im Wasser stand, würde er so schnell nicht vergessen können.

Was würde er dafür geben, wenn sie ihm gehören würde! Er würde sie nie wieder gehen lassen und irgendwann heiraten.

»Oh, Gott!«, flüsterte er erschüttert und verbarg kurz das Gesicht in den Händen. Hatte er gerade wirklich darüber nachgedacht, die Bischof zu heiraten? Dieses Mädchen raubte ihm echt den Verstand. Kurz blickte er zur lauten Party, die voll am Laufen war.

Er wusste, dass es dort kein Mädchen gab, dass ihn irgendwie interessierte. Es gab nur die Eine für ihn.

Als Jessica und Charlotta aus dem Wasser stiegen, kam Steffen den beiden Mädchen entgegen und reichte ihnen ihre Handtücher.

»Hey Jessi, du hättest mir Bescheid sagen sollen, dann wäre ich mit schwimmen gekommen«, sagte er an seine Freundin gewandt.

»Du hast gerade mit deinen Vereinskameraden gesprochen. Da wollte ich nicht stören«, erwiderte Jessica lächelnd.

»Ach, das hättest du ruhig machen können«, meinte Steffen und zog sie an sich. »Du siehst wirklich toll aus in diesem Badeanzug.«

»Danke«, murmelte Jessica und schon fühlte sie seine Lippen auf ihrem Mund.

Wahnsinn, jetzt war sie mit ihm schon über eine Woche zusammen.

Steffen war aufmerksam und lieb zu ihr. Die Beziehung verlief genauso, wie sie es sich erträumt hatte. Aber irgendwie …

Justin saß am niedergebrannten Lagerfeuer und blickte in die noch immer glimmende Glut. Hin und wieder sah er zu dem Bischofanführer und seiner Freundin und jedes Mal wurde er wütend, wenn er die beiden zusammen sah. Tina setzte sich neben ihm und legte ihren Arm auf seine Schulter.

»Justin, warum sitzt du hier allein? Komm doch rüber und spiele mit uns Flaschendrehen.«

»Nein, danke«, murmelte Justin, während sein Blick wieder Jessica suchte.

Tina musterte ihn von der Seite und folgte dem Ziel seiner Augen.

Steffen küsste gerade wieder seine Freundin, doch Jessica befreite sich lachend von ihm und lief zu ihrer Freundin Charlie.

»Ach, Justin«, flüsterte sie traurig, während sie Steffen betrachtete. »Das bringt nichts. Sie findet dich seltsam, sagte sie mal.«

Oh Mist, durchfuhr es Tina erschrocken, das durfte ich doch nicht ausplaudern. Halt, das hat Jessica gesagt, bevor wir unseren Yogapakt geschlossen hatten.

»Seltsam?« Justin fuhr mit einer Hand durch sein dunkles Haar. »Das wundert mich nicht, schließlich habe ich auch alles dafür getan, dass man mich so wahrnimmt.«

»Such dir ein anderes Mädchen!«, schlug Tina vor.

Justin sah wieder in die Glut des fast erloschenen Lagerfeuers.

»Das will ich nicht. Keine Ahnung, was mit mir los ist«, flüsterte er.

Tina lachte bitter auf. »Du bist verknallt. Mir geht es doch genauso. Was meinst du, warum ich mich so oft mit Jungen verabrede? Ich will mich nur ablenken.«

»Und, funktioniert es?«

»Ein bisschen. Nervig wird es nur, wenn die eine feste Beziehung wollen.«

Justin lächelte Tina amüsiert an. »Ich kann die Jungen verstehen, schließlich bist du ein tolles Mädchen. In wen bist du verliebt? Wer ist so dämlich und will dich nicht haben?«

Tina errötete verlegen. »Das möchte ich nicht sagen. Es bringt eh nichts.«

Justin nickte bedächtig und erhob sich. »Ich geh jetzt nach Hause. Löschst du die Glut gleich?«

»Klar.« Tina stand ebenfalls auf. »Bis morgen!«

»Bis morgen.«

 

1. Kapitel

19. Juli 1968

Verärgert starrte Jane auf die noch immer geschlossenen Umzugskartons, die sich ihr gegenüber an der Zimmerwand stapelten.

Noch gestern war ihr Leben schön und voller Energie gewesen, doch nun kam sie sich wie lebendig begraben vor. Weshalb hatten ihre Eltern nicht bis zu ihrem Schulabschluss mit dem Umzug nach Weißwald warten können? Oh, wie sie sich nach Hamburg sehnte!

Ihre Mutter hatte gesagt, dass sie den Stadtstress nicht mehr vertrage.

So ein Blödsinn, dachte Jane. Es hätte doch gereicht, in einen Außenbezirk zu ziehen. Leider besaßen ihre Schwester Viola und deren Ehemann Albert einen großen Gutshof samt Gestüt. Sie hatten der Familie angeboten, bei ihnen zu wohnen.

Sie war so wütend auf ihre Eltern! Wie konnten sie nur so einfach über ihren Kopf hinweg entscheiden, ohne sie zu fragen?

Wenigstens wollte ihr Vater, der Brite war, nicht nach England zurück. Das hätte ihr gerade noch gefehlt.

Jane vermisste schon jetzt ihre Freunde, besonders ihre beste Freundin Katrin. Noch hatte sie keine Vorstellung davon, wie die jungen Leute in einem Dorf tickten. Vermutlich waren alle spießig und hörten sich brav die neuesten Schlager an. Sicher würde sie hier mit ihrer Hippiekleidung wie ein bunter Hund auffallen.

Soweit sie während der Autofahrt sehen konnte, war Weißwald eine relativ große Gemeinde. Lange fuhren sie auf der Landstraße an dichten Wäldern vorbei und kurz vor dem Dorf hatte sie in der Ferne einen See erspähen können.

Onkel Albert besaß eine Pferdezucht, und Janes Vater hatte es sich in den Kopf gesetzt, ins Geschäft einzusteigen. Tante Viola sah Janes Mutter ziemlich ähnlich. Sie war ebenfalls hellblond und groß. Onkel Albert hingegen war rothaarig mit vielen kleinen Locken und überall im Gesicht und auf den Armen hatte er eine Menge Sommersprossen. Alles an ihm schien rot zu sein. Aber am besten gefiel es Jane, dass er immerzu lachte. 

Ihr Cousine Alice hatte sie bis jetzt noch nicht zu Gesicht bekommen. Sie kannte sie nur von alten Fotos.

Jane hoffte, dass sie nicht allzu spießig war, schließlich würden sie von nun an viel Zeit miteinander verbringen müssen.

Am späten Nachmittag betrat Alice, nachdem sie kurz angeklopft hatte, das Zimmer ihrer Cousine. Auch sie hatte sich Gedanken darüber gemacht, wie wohl die neuen Hausbewohner aus Hamburg sein würden. Inständig hoffte sie, dass Jane nett war, und man gut mit ihr auskommen konnte.

Das Erste, was sie vernahm, war ein älterer Song von den Beatles[1] und die Stimme ihrer Verwandten, die laut mitsang.

Jane erblickte ihre Cousine, lief zum Schallplattenspieler und drehte die Musik leiser. Alice hatte das Aussehen und anscheinend auch das sonnige Gemüt ihres Vaters geerbt. Sie mochte Alices lange, rot gelockte Haare, die vielen Sommersprossen und die dunkelbraunen Augen sofort.

»Hallo Alice.«

»Du bist Jane Wellway, die Engländerin?«, erwiderte Alice strahlend. »Ich war so gespannt darauf, dich endlich einmal kennenzulernen. Oh, Jane, man sieht dir an, dass du aus der Großstadt kommst. Du siehst aus wie die Hippie-Modelle aus den Magazinen. Du hast ein unglaublich hübsches Gesicht. Ich wünschte, ich hätte so schöne langen blonden Haare und deine hellen blauen Augen.«

»Englisch nur zur Hälfte. Und du bist Alice?«, unterbrach Jane sie verlegen, als die Cousine Luft holte. »Ich finde dich auch sehr hübsch. Die roten Locken sehen so schön wild aus.«

»Oh, man hört direkt, dass du aus dem Norden kommst«, rief Alice sogleich erstaunt. »Du betonst die Worte so anders.«

»Ich werde mich bemühen, hochdeutsch zu sprechen«, erwiderte Jane schmunzelnd.

Nachdem Alice die Schallplatten und Bücher ihrer Cousine neugierig inspiziert hatte, begann sie, von zwei Banden, den Bischofs und den Willems zu erzählen. Sie selbst gehörte zu der Bischofbande. Verwundert lauschte Jane ihren Worten. Laut Alice waren die Banden harmlos, keine Halbstarken[2], sondern nur ein Zeitvertreib für einige Kinder in Weißwald, die inzwischen zu Jugendlichen herangewachsen waren.

»Kinder, kommt ihr zum Abendessen?«, rief Janes Mutter laut vor der Tür, ohne hineinzuschauen.

»Woher weiß sie, dass ich bei dir bin?«, fragte Alice verwundert.

»Meine Mutter weiß alles«, antwortete Jane lachend. »Vor ihr kann man nichts verbergen.«

»Ha, genau wie meine Mutter«, rief Alice grinsend. »Na, dann lass uns mal ins Esszimmer gehen. Ich bin gespannt darauf, deine Eltern kennenzulernen.«

20. Juli 1968

Als Jane am nächsten Morgen erwachte, wusste sie erst gar nicht, wo sie war, doch schnell kehrten ihre Erinnerungen zurück.

Als sie wenig später gerade dabei war, sich anzuziehen, rauschte Alice in ihr Zimmer.

»Guten Morgen Jane, gut geschlafen? Was hast du geträumt?«, fragte sie und grinste dabei wie ein Honigkuchenpferd.

»Moin[3]. Allerbest, un mien Droom blievt en Geheemnis[4]«, antwortete Jane und schminkte sich so, wie sie es in hippen Modezeitschriften gesehen hatte. »Oh, ich muss ja Hochdeutsch sprechen. Zeigst du mir das Gestüt?«

»Du willst doch nicht etwa so rausgehen?«

»Jo[5], stimmt was nicht?«

»Du wirst hier viele Blicke auf dich ziehen. Na, gehen wir erst einmal frühstücken. Mal sehen, ob meine Mutter der Schlag trifft.«

»Du meinst, ich sollte etwas weniger Farbe auftragen?«, fragte Jane, verblüfft über Alices Geschick, ihr Aussehen zu kritisieren und sie dennoch so zu akzeptieren, wie sie war.

Ohne zu antworten, grinste Alice ihre Cousine an.

Ihr zuliebe ging Jane komplett ungeschminkt hinunter in das Frühstückszimmer.

»Oh Jane, so bleek[6] habe ich dich ja lange nicht gesehen«, rief ihre Mutter erstaunt aus, als sie ihre Tochter durch die Tür kommen sah.

»Jo«, meinte Jane nur und wies zu Alice. »Du kannst dich bei ihr dafür bedanken.«

Eine Stunde später zeigte Alice ihrer Cousine das weitläufige Anwesen, zu dem das Gestüt, die Koppeln und viele Nebengebäude gehörten. Sie erzählte von der Geschichte des Gestüts und den vielen Modernisierungen, die in den letzten Jahren erfolgt waren. Schließlich standen sie vor einem langgezogenen Backsteingebäude. 

»Das ist der größte von unseren Pferdeställen. Hier stehen unsere eigenen Pferde. Die anderen Ställe dienen als Pferdepension. Pferdebesitzer aus Weißwald und der Umgebung haben dort ihre Pferde untergestellt. Sie zahlen für die Boxen, das Futter, das Misten und den Weidegang. Das ist zwar eine Menge Arbeit, aber es bringt gutes Geld ein.«

»Und hier züchtet ihr Pferde?«

»Ja. Komm, ich zeige sie dir.« Gemeinsam betraten sie den Stall und Alice bemerkte, wie Jane die anwesenden Tiere bewundernd musterte.

»Wie wäre es, wenn ich dir das Reiten beibringen würde?«, schlug sie vor. »Es ist nicht schwer.«

»Meinetwegen«, entschied Jane spontan. »Ich habe allerdings das letzte Mal als Kind bei einer Kirmes auf einem Ponyrücken gesessen.«

»Ach, das ist nur eine Frage der Gewohnheit. Ich gebe dir Lisa. Sie ist sehr lieb und zutraulich.«

In Windeseile sattelte Alice eine schwarzweiß gescheckte Lusitano-Stute, half ihrer Cousine in den Sattel und erklärte ihr, auf was sie zu achten habe.

Unsicher blickte Jane auf die Zügel in ihrer Hand. Während sie überlegte, ob sie nicht doch besser absteigen sollte, ertönte plötzlich ein lauter Knall. Das Auto eines Mitarbeiters, der gerade das Gestüt verlassen wollte, hatte eine Fehlzündung. Lisa buckelte, stieg und ging durch. Voller Panik krallte sich Jane an der Mähne der Stute fest.

»Von wegen ruhig!«, schrie sie entsetzt, während sie Alice »Greif nach den Zügeln!«, rufen hörte.

»Haaaaalt, brrrr, stopp!«, kreischte Jane angsterfüllt, doch es half nichts.

Es war kaum eine Minute vergangen, aber ihr kam es wie Stunden vor, als plötzlich ein Pferd neben ihr auftauchte.

Der mutige Reiter griff nach Lisas Zügeln und hielt beide Pferde an.

Erleichtert fluchte Jane in der blumigsten Seemannssprache, bevor sie sich langsam aufrichtete.

»Dank ok[7]!«, sagte sie dann, sich auf ihre guten Manieren besinnend.

»Gern geschehen.« Ihr Retter lächelte sie fröhlich an. »Es war mir ein Vergnügen. Du bist Jane Wellway, Alices Cousine aus Hamburg?«

Er hat eine angenehme Stimme. Jane wendete ihren Kopf in seine Richtung und erstarrte. Erstaunt stellte sie fest, dass ein unglaublich hübscher Junge vor ihr stand. Er schien in ihrem Alter zu sein, hatte strahlende, von langen schwarzen Wimpern umrahmte dunkelblaue Augen, eine nahezu perfekte Nase und schön geschwungene Lippen. Am meisten gefiel ihr jedoch sein bis zu den Schultern reichendes, dunkelbraunes, gewelltes, jedoch etwas zerzaustes Haar. Im Gegensatz zu ihrer Jeans und dem bunten Batikshirt trug er ein rotes Poloshirt, mit Schmutz bespritzte schwarze Reithosen und Reitstiefel.

Galant half er ihr beim Absteigen und ein paar Sekunden sah es so aus, als wolle er sie nicht so schnell wieder loslassen.

»Das stimmt. Und mit wem habe ich die Ehre?«, fragte Jane schüchtern und mit schnell klopfenden Herzen, nachdem sie sich wieder etwas gefasst hatte.

»Ich heiße Christian Kaiser«, antwortete er und sein hübsches Gesicht überzog sich mit einer leichten Röte.

An diesen Namen erinnerte sie sich.

»Du bist der Anführer der Willemsbande!« 

»Ah, Alice hat dir schon von uns erzählt. Man hört, dass du aus Hamburg kommst.«

»Ich bin dir so dankbar, dass du mich gerettet hast. Nur Sekunden später, und ich hätte mich nicht mehr halten können.«

»Du brauchst dich nicht bei mir zu bedanken. So einem schönen Mädchen würde ich stets wieder helfen.«

Jane spürte, wie scheinbar Tausende von Schmetterlingen in ihrem Magen Walzer zu tanzen begann.

Wie verzaubert berührte sie seine Wangen und küsste ihn sanft auf den Mund. Eigentlich sollte es nur ein kurzer freundschaftlicher Kuss sein, doch Christian hielt sie fest. Sie spürte, wie sein Mund sich öffnete. Automatisch folgte sie ihm und nur einen Moment später trafen sich ihre Zungen.

Das war das erste Mal, dass Jane so weit gegangen war.

Oh mein Gott, das ist mein erster richtiger Kuss, dachte sie glücklich. Nach mehreren Sekunden löste sie sich von Christian und beide starrten sich erstaunt an.

Plötzlich vernahm sie das Aufschlagen von Pferdehufen. Unwillig ließ sie ihren Retter los und trat einen Schritt zurück.

»Oh, verrückt, du bist umwerfend«, hörte sie ihn murmeln. »Ich muss dich unbedingt wiedersehen.«

»Ich dich auch«, erwiderte Jane errötend.

Ob Alice unsere Umarmung gesehen hat, fragte sie sich dann.

Ihre Cousine brachte vor den beiden ihr Pferd zum Stehen und glitt von dessen ungesatteltem Rücken. 

»Jane, Gott sei Dank, dir ist nichts passiert. Ich hatte solche Angst um dich«, schluchzte sie dabei vollkommen aufgelöst.

»Christian hat mich gerettet«, erklärte Jane, während sie ihn bewundernd ansah. »Er ergriff einfach Lisas Zügel und hielt sie so an.«

»Danke«, meinte Alice nur kühl zu ihm. »Komm, Jane, der ist kein Umgang für dich. Lass uns Lisa nach Hause bringen.«

»Kein Umgang?« Überrascht musterte Jane noch immer ihren Retter, der über Alices Einschätzung ziemlich erbost schien.

Sagt sie das wegen den Banden? Ich meine, er sieht nicht gerade wie ein Halbstarker aus, dachte sie schmunzelnd. Dann wendete sie sich von ihm ab und folgte ihrer Cousine, die beide Pferde an den Zügeln hielt und schon vorgelaufen war.

»Ich warne dich, Alice«, hörte sie Christian nach wenigen Sekunden mit wütender Stimme rufen. »Zieh Jane nicht in die Banden mit rein!«

Alice blickte nur stur geradeaus und drehte sich nicht zu ihm um.

»Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?«, erkundigte sie sich dann mit besorgter Miene.

»Mir geht es gut. Der Schreck sitzt mir aber noch in den Knochen.« Seufzend drehte Jane sich erneut zu Christian um, der noch immer am selben Platz stand und den beiden Mädchen nachsah.

»Wat for een smuck Burs.[8] Er gefällt mir sogar noch besser als Roger Daltrey[9]. Hat er eine Freundin?«

»Wer ist Roger Daltrey?«, fragte Alice.

»Das ist der Sänger von The Who[10], der tollste Typ der Beatgeschichte, neben John Lennon[11] natürlich. Den kennst du nicht?«

»Ach so, du meinst den Blonden? Ich finde Roy Black[12] klasse. Kaiser ist doof und ich will nicht, dass du ihn magst.«

»Gefällt er dir nicht?«

»Auf keinen Fall! Ich kenne den Idioten schon, seit wir Kinder sind. Das reicht mir.«

Na, soll mir recht sein. Ich jedenfalls kann es kaum erwarten, ihn wiederzusehen. Wenn ich nur an ihn denke, schlägt mein Herz schneller – Christian Kaiser …

21. Juli 1968

Gleich nach dem Frühstück sattelte Alice den Hengst Ares und ritt gemeinsam mit ihrer Cousine zum Bischoflager.

»Wir sind da«, sagte sie kaum zehn Minuten später mitten im Wald.

Die Mädchen stiegen ab.

»Willst du Ares nicht an einen Baum anbinden, oder so?«

»Nein, er sucht sich jetzt hier sein Futter. Keine Sorge, Ares bleibt in der Nähe.«

Dann musterte Jane enttäuscht das Bischoflager.

Vor ihr stand eine selbst zusammengeschusterte Laube aus Gartenzaunelementen und anderen Holzlatten, die man mehr oder weniger fachmännisch miteinander verbunden hatte. Selbst ein Glasfenster und eine dunkelgrün lackierte Tür hatten die Erbauer auftreiben und einsetzen können.

»Wow, es ist wohl sehr alt, oder?«

»Ja, ich weiß. Es ist kein Palast, aber für uns reichts.«

Neugierig betrat Jane nach Alice den kleinen Raum, und sofort richteten sich alle Augenpaare auf sie.

Als Erstes stellte Alice ihr alle Mitglieder vor: Jürgen Glasner, Anne Mathies, Richard Kierdorf und Ursula Hardt. Amüsiert nahm sie wahr, wie die Jungen Jane mit offenem Mund anstarrten.

»Hast du immer so eine Wirkung auf Jungen?«, raunte sie Jane schmunzelnd zu.

»Was meinst du?«, fragte Jane irritiert.

»Ach schon gut. Bis vor ein paar Monaten hatten wir einen Anführer. Hannes musste allerdings umziehen und nun fehlt das wichtigste Mitglied der Bande«, erklärte sie abschließend.

»Weshalb habt ihr keinen neuen Anführer gewählt?«, fragte Jane verwundert.

»Das hätten wir ja schon längst gemacht, aber das Problem ist, dass niemand von uns Anführer werden möchte«, erklärte Anne.

»Ah, ich verstehe. Der Boss schlägt sich mit den Willems rum«, schlussfolgerte Jane. Sie dachte an Christian, dem Anführer der Willems, und sofort spürte sie ihr Herz schneller schlagen.

»So ähnlich. Willst du in unsere Bande eintreten?«, fragte Ursula. Die restlichen Anwesenden nickten zustimmend.

»Dann hätten wir wenigstens wieder die komplette Anzahl an Mitgliedern.«

»Gern«, erwiderte Jane.

»W…willst du d…dich als Anführer versuchen?«, schlug Richard stotternd hochrot vor und zog damit die überraschten Blicke seiner Freunde auf sich.

»Na, von uns will es doch niemand machen«, rechtfertigte er sich schnell.

»Klar«, entschied Jane kurz entschlossen. »Ich glaube nicht, dass man sich immer schlagen muss. Ich denke, man kann Probleme auch anders lösen.«

»Da spricht das Blumenkind[13]!«, rief Jürgen lachend. »Die Willems werden staunen.«

Also, für so feige hätte ich meine Cousine und ihre Freunde nicht gehalten. Das muss definitiv geändert werden, beschloss die neue Anführerin der Bischofbande sofort.

Auf dem Heimweg saß Jane wieder hinter Alice auf dem Pferd und fragte sie über die Willems aus. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie wirklich so schlimm sein sollten, schließlich hatte Christian einen so netten Eindruck auf sie gemacht.

»Allein ist er manchmal zu ertragen und zu den Mädchen, die ihn interessieren ist er wohl auch sehr charmant. Aber das hast du ja schon festgestellt.« Alice grinste ihr über die Schulter zu. »Jane, man merkt, dass du noch nicht dem ganzen Trupp begegnet bist. Wenn du erst merkst, wie blöd Kaiser als Willemsanführer werden kann, magst du ihn sicher auch nicht mehr.«

Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, waren sie auch schon von vier Jungen und zwei Mädchen umringt.

»Das sind die Willems, oder?«, flüsterte Jane in Alices Ohr.

»Ja«, murmelte die Cousine und wirkte plötzlich gar nicht mehr so selbstsicher und lebhaft.

Christian trat zu ihnen und ergriff Ares´ Zügel. Dann schenkte er Jane, wie sie fand, ein unglaublich hübsches Lächeln.

»Hallo Jane, schön, dich wiederzusehen«, raunte er ihr leise zu.

»Moin«, erwiderte Jane. Sie bemühte sich, ihre Stimme kühl klingen zu lassen.

Wie er mich die ganze Zeit ansieht, dachte sie dabei entzückt.

»Alice, habt ihr endlich einen Anführer gewählt?«, richtete er dann das Wort an ihre Cousine. »Dieser Zustand zieht sich nun schon mehrere Monate hin. Das funktioniert so nicht. Wenn das so weitergehen soll, können wir die Banden auch gleich weitergeben.«

Alice stieß Jane unauffällig an.

»Ich bin der neue Anführer der Bischofbande«, sagte diese daraufhin betont langsam.

»Das verzeihe ich dir nie!«, fuhr Christian Alice an, doch dann richtete er wieder den Blick auf Jane. Er sah sehr enttäuscht aus. »Diese Idioten wählen jemanden, den sie nicht kennen? Die sind doch komplett durchgedreht. Was soll ich denn mit einem Mädchen als Bischofanführerin anfangen? Das geht nicht!«

»Hey, du Snöttbaart[14], es geht dich überhaupt nichts an, wen die Bischofbande zu ihrem Anführer wählt. Du hast deren Entscheidung zu akzeptieren und damit zu leben«, wies Jane ihn im strengen Ton zurecht. 

Sprachlos schüttelte er den Kopf, dann sah er sie eindringlich an. »Jane, du machst einen großen Fehler. Tritt wieder aus der Bande aus, du hast doch gar keine Ahnung, was dich erwartet.«

»Danke für den Vorschlag, doch du kennst mich noch nicht. Was ich einmal begonnen habe, führe ich zu Ende. Ich bin ein ernst zu nehmender Gegner.«

Langsam kehrten nun auch Alices Lebensgeister zurück. Mutig entriss sie Christian die Zügel und ließ Ares antraben.

»Der gute Chris ist ja fast umgefallen, als du dich ihm offenbart hast«, rief sie lachend. »Ich glaube, er hatte andere Pläne mit dir.«

»Die Willems werden mich noch kennenlernen«, erwiderte Jane zuversichtlich.

Vierundzwanzig Jahre später.

»Nein, ich kann es nicht glauben!«, verblüfft starrte Jane Kaiser nun schon mehrere Minuten auf den Schwangerschaftstest, den sie in ihren zitternden Händen hielt.

Nun hatte auch der dritte Versuch ein positives Ergebnis gebracht.

Wie hatte das nur passieren können, sie hatten doch immer aufgepasst!

Entschlossen griff sie nach ihrer Jacke und dem Autoschlüssel, den sie vorher achtlos auf den Tisch geworfen hatte. Dann fuhr sie zu der Arztpraxis ihres Mannes.

»Es ist ja fast unmöglich, hier einen Parkplatz zu finden«, begrüßte sie eine halbe Stunde später die junge hübsche Sprechstundenhilfe mit einem aufgesetzten Lächeln. »Guten Tag, sagen Sie bitte meinem Mann, dass ich etwas äußerst Wichtiges mit ihm zu besprechen habe?«

»Sein Terminkalender ist eigentlich randvoll, aber ich werde mal schauen, was ich machen kann«, antwortete die junge Frau leicht errötend und verschwand schnell im Behandlungszimmer.

»Er wird ja wohl einen Moment für mich Zeit haben«, murmelte Jane aufgebracht.

»Sie können jetzt hereinkommen«, sagte die Sprechstundenhilfe nur wenige Augenblicke später verlegen und hielt Jane die Tür auf.

»Vielen Dank.« Betont selbstbewusst rauschte Jane an ihr vorbei und sank auf den Stuhl nieder, der auf der anderen Seite des Schreibtisches stand.

»Hallo Jane, was für eine Überraschung.« Christian schlug die vor ihm liegende Patientenakte zu und blickte seine Frau fragend an. »Du hast mich schon lange nicht mehr in der Praxis besucht. Das kann nur bedeuten, dass etwas Schlimmes passiert ist.«

Nervös griff Jane nach einem Stift und drehte ihn zwischen ihren Fingern.

»Ich bin schwanger«, platzte es schließlich aus ihr heraus.

»Was?« Christian sprang überrascht auf. »Wie konnte das …?«

»Es muss nach dem Theaterbesuch passiert sein. Das war das letzte Mal, als wir …«

Jane fuhr mit einer Hand durch ihr offenes langes Haar. »Ich bin doch schon vierzig Jahre alt, soll ich mir das noch einmal zutrauen? Aber ob du es glaubst oder nicht, langsam gewöhne ich mich an den Gedanken. Irgendwie freue ich mich jetzt sogar. Viele Frauen in meinem Alter bekommen noch Nachwuchs. Allerdings wollte ich nur in einer intakten Beziehung Kinder aufziehen. Wir zwei scheinen allerdings kurz vor der Scheidung zu stehen.«

»Kurz vor der Scheidung? Wie kommst du denn auf diesen Gedanken? Es ist doch alles gut zwischen uns, oder nicht?« Christian ließ sich wieder auf seinen Stuhl nieder, beugte sich über den Tisch und blickte seine Frau aufmerksam an.

»Wir sehen uns so gut wie nie. Ich weiß nichts mehr über dich. Es würde mich nicht einmal wundern, wenn du mit der Kleinen da draußen eine Affäre haben würdest.«

»Wie kannst du mir so etwas unterstellen? Du weißt doch, wie viel Arbeit in dieser Praxis anfällt, schließlich hast du selbst eine. Und du weißt, dass ich dich nie betrügen würde. Als wir beide unsere Karrieren aufbauten, wussten wir ganz genau, worauf wir uns einlassen.«

Überrascht musterte Jane ihren gutaussehenden Ehemann. Er kam ihr so fremd vor und das nach achtzehn Jahren Ehe.

»Liegt dir eigentlich noch etwas an unserer Beziehung?«, fragte sie mit klopfendem Herzen.

»Natürlich Jane, wie kannst du nur daran zweifeln?«

Zu ihrer Überraschung stand er auf, ging um den Tisch herum und zog sie in seine Arme. »Ich glaube, es ist höchste Zeit, dass wir in Ruhe miteinander sprechen.«

»Haben wir uns nicht schon alles gesagt?«

»Meine Schöne, das sieht dir überhaupt nicht ähnlich. Leider kann ich die Praxis jetzt nicht schließen, das Behandlungszimmer ist voll. Wir zwei werden heute Abend essen gehen und alles besprechen.«

Jane nickte zustimmend.

Einige Stunden später saß das Paar bei leiser Musik und Kerzenschein in einem kleinen, italienischen Restaurant.

»Findest du nicht, dass wir nur noch aus Gewohnheit zusammen sind?«, fragte Jane leise, während sie in ihr Wasserglas starrte.

»Nein, das sehe ich nicht so. Wie kommst du nur auf diesen absurden Gedanken?«, erwiderte Christian gekränkt.

»Das kann ich dir sagen. Damals in Weißwald waren wir glücklich miteinander … die ersten Jahre in Hamburg natürlich auch. Jetzt leben wir nur noch nebeneinander, wie zwei Fremde. Ach, ich vermisse das kleine Städtchen und meine Verwandten. Es war so schön damals.« Sanft berührte Jane die Hand ihres Mannes. »Sieh dir nur Dana und Alan an. Dana ist extrem eingebildet und Alan schleppt ständig neue Mädchen an.«

»Er ist gerade in diesem Alter.«

»Du warst nicht so.«

»Ich sah dich und wusste im ersten Moment, die oder keine. Irgendwann wird auch er die Richtige finden.«

»Ach Chris, du hast schon lange nicht mehr so mit mir gesprochen. Das vermisse ich. Aber kommen wir zu dem Baby zurück. Ich will nicht, dass es auch so verkorkst wird. Es soll nicht in der Großstadt aufwachsen.«

»Verstehe ich dich richtig? Du spielst mit dem Gedanken, nach Weißwald zurückzukehren?«, rief Christian überrascht. »Was soll aus deiner Tierarztpraxis werden? Du hast so viel Arbeit hineingesteckt.«

»Ich habe vorhin mit Alice telefoniert. Doktor Rode sucht einen Nachfolger für seine Praxis. Er würde sie dir sicher gern überlassen. Einen Tierarzt gibt es in der näheren Umgebung nicht, also wäre ich ganz ohne Konkurrenz.«

»Das kommt sehr überraschend. Was ist, wenn ich nicht mitkommen möchte?«

»Ich werde mein Baby nicht hier bekommen.«

»Du wirst also mit oder ohne mich gehen?« Verstört trank Christian sein Weinglas in einem Zuge leer. »Wie konnte es nur so weit kommen?«

»Also, ich will dich nicht unter Druck setzen. Wir könnten versuchen, eine Wochenendbeziehung zu führen.«

»Das klappt doch nie, dazu ist Weißwald viel zu weit weg. Jane, ich liebe dich. Doktor Rode gibt seine Praxis ab? Ich werde mich morgen mit ihm in Verbindung setzen. Für meine Praxis werde ich sicher schnell einen Nachfolger finden.«

»Du hast mir ewig nicht mehr gesagt, dass du mich liebst«, Jane seufzte erleichtert auf. »Du würdest wirklich mit nach Weißwald zurück gehen?«

»Du hast auch seit Ewigkeiten nicht mehr gesagt, dass du mich liebst«, erinnerte Christian sie traurig. »Ich würde dir überallhin folgen, selbst nach all den Jahren. Ich bin damals nur dir zuliebe mit nach Hamburg gekommen, aber gemocht habe ich die Großstadt nie. Meinetwegen können wir so bald wie möglich umziehen. Sicher können wir übergangsweise bei meinen Eltern wohnen, bis wir etwas Geeignetes für uns finden.«

»Bei deiner Mutter? Auf keinen Fall! Wenn es in Ordnung für dich ist, sorgt Alice dafür, dass ein Bereich des Gutshofs für uns hergerichtet wird. Es ist so groß und so viele Zimmer stehen leer. Du hast das Haus und das Gestüt früher doch immer sehr gemocht.«

»Ja, weil du da gewohnt hast, habe ich es geliebt. Ich möchte gerne dort leben und gemeinsam mit dir einen Neubeginn wagen. Du hast recht mit deiner Einschätzung über unsere Kinder. Es ist besser für beide, wenn wir sie von hier fortbringen.«

»Sie werden uns dafür hassen.«

[1] Britische Beat, -Rock-und Pop-Band, Psychedelic Rock, (1960–1970)

[2] aggressiv auftretender Jugendlicher

[3] Guten Morgen

[4] Wunderbar, und mein Traum bleibt ein Geheimnis

[5] Ja

[6] farblos, ohne Farbe

[7] Danke

[8] Was für ein hübscher junger Mann.

[9] Britischer Musiker (*01.03.1944), Mitbegründer und Sänger der Rockband The Who

[10] Britische Rockband, Gründung 1964

[11] Britischer Musiker, Komponist, Friedensaktivist, Mitbegründer der Beatles (*09.10.1940, †08.12.1980)

[12] Deutscher Schlagersänger und Schauspieler (*25. Januar, †9. Oktober 1991, bürgerlich Gerhard Höllerich)

[13] Deutsche Bezeichnung für Mitglieder der in den 1960er-Jahren in den USA entstandenen Hippiebewegung

[14] Rotzbengel, unreifer junger Mann

1. Kapitel

Achtundachtzig Jahre später.

»Die Banden werden weitergegeben! Heute Nachmittag um sechzehn Uhr ist es endlich so weit. Um diese Zeit erwarten uns die ehemaligen Anführer in ihren Lagern.« Marian Pauls genoss sichtlich die Aufmerksamkeit der ihn umringenden Mitschüler. »Wir müssen uns jetzt überlegen, wer zu welcher Bande darf.«

Sofort entstand ein großer Lärm im Klassenraum. Alle riefen sich untereinander zu, in welche Bande sie wollten.

Sich die Ohren zuhaltend, stieg Marie Raphaela Thomas auf einen Tisch und rief laut, um die anderen Kinder zu übertönen. »Am besten, wir ziehen Lose. Eric, machst du bitte schnell genügend und auch ein paar Nieten dazu?«

»Ich …« Eric verstummte, als er Frau Wollnik, die Klassenlehrerin, das Zimmer betreten sah.

»Was ist denn hier los? Mara … Marie Raphaela, könntest du mir bitte erklären, was du auf dem Tisch zu suchen hast?«, fragte sie erstaunt.

»Die Banden werden weitergegeben!«, eilte Eric seiner Freundin sofort zu Hilfe. »Wir müssen bis sechzehn Uhr entschieden haben, wer in welche Bande darf!«

»Und das geht nicht leiser und gesitteter? Man hat euch bis auf den Flur hinaus gehört!«

»Frau Wollnik, wir brauchen Lose«, sagte Mara, die inzwischen vom Tisch gestiegen war. »Können Sie uns dabei helfen?«

»Natürlich kann ich das, ja, das ist wohl sogar meine Pflicht bei einem solch großen Ereignis«, seufzte die Lehrerin und ließ sich schmunzelnd auf ihrem Stuhl nieder. »Es ist ja schließlich nicht das erste Mal. Beschäftigt euch leise, bis ich fertig bin!«

Kaum zehn Minuten später legte die Lehrerin die angefertigten Lose auf ihren Tisch und bat nun die Schüler einzeln nach vorn.

Ängstlich nahm Mara ein zusammengefaltetes kleines Stück Papier und öffnete es vorsichtig.

»Bischof, ja!«, rief sie überglücklich. Genau das war ihr Traum gewesen.

»Willem?«, hörte sie dann Eric, der nach ihr dran war, sagen.

Erschrocken blickte sie zu ihrem besten Freund. »Was, du bist ein Willem? Oh nein, das darfst du nicht!«

»Hey Mara, ich habe das Los gezogen. Ich bin jetzt ein Willem und daran wird sich nichts ändern. Es war schön, mit dir befreundet gewesen zu sein.«

Ohne sie noch eines weiteren Blickes zu würdigen, stellte er sich vor die Tafel. »Alle Willems zu mir!«

Innerhalb von nur wenigen Sekunden war er von fünf Kindern umringt.

»Lukas, Robin, Angela, Thanee und Melanie, ihr gehört nun zu den Willems. Wir treffen uns pünktlich um vier Uhr vor dem Willemslager.«

Das hatte Mara gerade noch gefehlt. Ihre Lieblingsfeindin Stefanie Fischer hatte ein Bischof-Los gezogen. Wütend warf sie ihr einen giftigen Blick zu.

Verdammt, warum waren Angela und Eric nur in der anderen Bande? Sie konnte es nicht fassen, da hatte sie an einem Tag ihre beiden besten Freunde verloren. Wie ungerecht konnte die Welt doch sein!

Kopfschüttelnd schob sie schnell diese düsteren Gedanken beiseite und blickte zu den Kindern, die sich inzwischen zu ihr gesellt hatten.

»Shirin und Celine! Habt ihr aber ein Glück, dass ihr zusammen in der Bande seid. Marian, Florian und … Stefanie … ich heiße euch bei den Bischofs willkommen.« Mara räusperte sich kurz und registrierte dabei den wütenden Blick, den ihr Stefanie zuwarf. »Wir treffen uns sechzehn Uhr am Bischoflager. Seid bitte pünktlich!«

»Also, wenn dann jetzt alles geklärt ist, würde ich gerne den Unterricht fortsetzen«, meldete sich Frau Wollnik, die die ganze Szene schmunzelnd beobachtet hatte. »Jeder setzt sich auf seinen Platz, schließlich haben wir noch fünfundzwanzig Minuten Unterricht.«

»Mama, ich bin bei den Bischofs aufgenommen worden!« Strahlend blickte Mara ihre Mutter an. »Du ahnst gar nicht, was das für eine große Ehre ist. Und außerdem ist damit mein größter Wunsch in Erfüllung gegangen.«

»Du bist bei den Bischofs?« Lucy Thomas sah ihre Tochter nachsichtig an und strich ihr über den kleinen Kopf. »Dein Vater war früher auch in einer Bande.«

Verwirrt beobachtete Mara, wie mit einem Male das Gesicht ihrer Mutter einen traurigen Ausdruck annahm. Was hatte sie denn nur, Papa war doch bloß ein paar Tage im Urlaub, oder?

»In welcher Bande war er denn?«, fragte sie interessiert.

»Ich glaube, er war auch bei den Bischofs. Deshalb konnten wir uns damals nur abends treffen. Er hatte jede freie Minute mit seiner Bande oder im Fußballverein verbracht. Was ist mit Eric, ist er auch ein Bischof?«

Mara blickte traurig ihre Mutter an.

»Nein, er kam zu den Willems«, murmelte sie.

»Oh, wie schrecklich!« Betroffen kniete Lucy sich vor ihre kleine Tochter und umarmte sie. »Kann er nicht mit jemandem tauschen?«

»Nein, er ist froh, dass er dort ist. Ich muss jetzt los, ich darf nicht zu spät zum Lager kommen.« Schnell löste sich Mara aus der Umarmung ihrer Mutter. »Bis nachher.«

»Können wir losgehen?«

»Wie bitte?«

»Gehen wir endlich zu den Bischofs?«

»Gleich.« Shirin starrte angestrengt zum Eingang der Gasse, aus der Mara eigentlich jeden Moment kommen sollte.

»Wir kommen noch zu spät!«

»Mara kommt gleich.«

»Wir warten auf die Thomas?« Angewidert verzog Stefanie ihr Gesicht. »Das fehlt mir gerade noch.«

»Hey, Steffi, weshalb kannst du Mara nicht leiden? Sie ist so nett! Vergiss nicht, dass du sie von nun an jeden Tag sehen wirst.«

»Das ertrage ich nie.«

»Du hättest wohl lieber ein Willems-Los gezogen?«

»Natürlich, ich gebe es ja sogar zu. Mara ist eine eingebildete Kuh und mit ihren Sommersprossen und den roten Haaren sieht sie aus wie eine Hexe.« Sie stöhnte kurz auf, als sie Mara aus der Gasse kommen sah. »Mir reicht es jetzt schon. Ich gehe zum Willemslager und frage, ob jemand mit mir tauschen will.« Schnell drehte sie sich um und lief davon.

»Aber Steffi!«, rief Shirin ihr verblüfft nach.

»Lass sie nur gehen!«, sagte Mara, die die letzten Worte noch gehört hatte, lachend. »Hoffentlich kommt sie nie wieder.«

»Ich kann euch beide nicht verstehen.« Verwundert schüttelte Shirin ihren Kopf. »Ihr zwei habt euch noch nie gemocht. Woran liegt das nur?«

Mara hob nur amüsiert ihre Schultern. »Sie ist blöd, was soll ich da noch groß erklären? Los, wir müssen uns beeilen!«

Insgeheim hoffte sie, dass Eric bereitwillig tauschen würde.

»Kinder!«, sagte Adrian Hoffmann, der bisherige Bischofanführer, und lächelte dabei verschmitzt. »Ihr wollt also Bischofs werden? Stellt euch das nicht zu einfach vor. Ihr müsst die Willems richtig hassen lernen, sie sind eure Feinde. Vergesst, dass sie gestern noch eure Freunde waren. Ab jetzt wird alles anders. Wer damit nicht klarkommt, sollte besser jetzt das Lager verlassen.«

Heimlich tauschten die Kinder untereinander fragende Blicke aus, doch niemand wagte es auch nur, zur Tür zu sehen.

»Gut, weiter. Es ist sinnlos, wenn ihr euch zu Schlägereien hinreißen lasst. Erstens bringen sie nichts und zweitens sieht ein blaues Auge nicht besonders schön aus.«

Leise öffnete sich die Tür des Lagers und Angela schlüpfte mit rotem Kopf durch einen kleinen Spalt ins Lagerinnere.

»Angela, hast du die Willems verlassen?«, fragte Mara vorsichtig, doch als ihre Freundin lächelnd nickte, lief sie strahlend auf sie zu und umarmte sie stürmisch. Wenigstens hatte sie Angela nicht verloren!

»Ich habe mit Stefanie getauscht«, klärte sie ein paar Sekunden später die anderen auf. »Ich hätte es nicht ausgehalten, Mara zur Feindin zu haben.«

»Können wir jetzt weitermachen?«, meldete sich schließlich der ehemalige Anführer der Bischofbande wieder zu Wort. »Es ist ein Muss, dass ihr den Willems Streiche spielt und dabei solltet ihr möglichst immer die Oberhand behalten. Ist das klar so weit?«

Die Kinder nickten verschüchtert und doch beeindruckt.

»Okay, nun kommen wir zu dem wichtigsten Teil.« Der Junge ging zum Schrank, nahm zwei Bücher heraus und legte sie vor den Kindern auf den Tisch.

»Das ist unser … äh euer Heiligtum. Diese Bücher wurden von den Gründern der Bande angefertigt und haben jeweils eine spezielle Funktion. Dieses hier ist das Buch der Bischofbande. Darin befindet sich die Gründungsgeschichte und die Bischofgesetze, nach denen ihr euch zu richten habt. Und hier haben wir die Chronik. Dort dürft ihr auch etwas hineinschreiben, und zwar wann ihr die Bande übernommen habt, eure Namen, besonders gelungene Streiche und wann ihr die Bande weitergegeben habt. Wie ihr seht, befinden wir uns in einer neuen Laube. Wir haben sie durch Spenden ehemaliger Mitglieder kaufen können. Ihr glaubt gar nicht, wie viel Zeit wir und die Willems für die Lauben aufbringen mussten. Ich möchte, dass ihr das Lager gut pflegt und mindestens jedes zweite Jahr die Holzlasur außen erneuert. Ist das klar?«

Eifrig nickten die Kleinen.

Mara konnte es noch immer nicht fassen. Sie war ein Bandenmitglied! Und besonders glücklich machte sie, dass Stefanie jetzt bei den Willems war. Sie hasste deren arrogante Art, die blonden Haare und das sommersprossenfreie Gesicht.

»Wählen wir jetzt einen Anführer!«, schlug Shirin vor.

»Wie sollen wir abstimmen?«, fragte Marian.

Angela holte Papier und Stifte aus ihrer Tasche. »Wie wäre es damit?«

Jeder der Siebenjährigen nahm ein Blatt und einen Filzstift und versuchte, den Namen seines Favoriten aufzuschreiben.

Angela war die Beste in Lesen und Schreiben. Ihr fiel die Auswertung zu.

»Also, wir haben eine Stimme für Florian, zwei für Marian und drei für Mara. Ich gratuliere dir, Mara.«

»Ich?«, fragte Mara erstaunt. Ihr sollte diese Ehre zuteilwerden?

»Warum habt ihr gerade mich gewählt?«

»Du kannst dich gut durchsetzen und außerdem spielst du schon die ganze Zeit den Anführer«, antwortete Marian schmunzelnd. »Du schaffst das schon. Du hast ja nun ein paar Jahre Zeit, dich daran zu gewöhnen.«

»Gehen wir zum See?«, fragte Angela, während sie mit ihrem Zopf spielte. »Es ist so warm.«

Alle blickten erwartungsvoll zu Mara.

»Also, ich habe nichts dagegen.«, entschied sie und errötete verlegen.

Am See trafen die beiden Banden aufeinander. Durch Erics herrisches Auftreten erriet Mara sofort, dass er der neue Anführer der Willems war. Dies bedeutete nun wohl endgültig das Aus einer lebenslangen Freundschaft.

»Hey, Bischofs!«, rief Eric hochmütig, während er Marian musterte. »Wer ist euer Anführer?«

Mutig trat Mara einen Schritt vor, schließlich war er ja trotz allem noch immer Eric, der kleine Junge, mit dem sie schon in den Windeln liegend gespielt hatte.

»Ich bin die Anführerin der Bischofs.«

Überrascht brach Stefanie in Lachen aus und steckte die anderen Willems damit an.

»Sei still, du dumme Kuh!«, fuhr Mara ihre Lieblingsfeindin an und diese verstummte tatsächlich sofort.

»Hey, Thomas, du hast meiner Bande gar nichts zu befehlen. Vielleicht lasse ich es mal zu, wenn du keine Sommersprossen mehr hast.«

Verwirrt starrte Mara Eric an. Er war noch nie so gemein zu ihr gewesen und ihre Sommersprossen hatte er immer gemocht. Ja, er hatte sie sogar bewundert und war neidisch darauf gewesen!

»Was haben die Bischofs denn für einen laschen Anführer?«, höhnte Eric weiter. »Wenn das so weitergeht, können wir die Banden schon in einer Woche weitergeben.«

Wütend biss Mara ihre Zähne zusammen, schließlich hieß doch der erste Grundsatz, dass man sich nicht schlagen sollte. Man konnte alles ausdiskutieren, oder etwa nicht?

»Findet ihr es gut, solch einen Feuerwehrhydranten als Anführer zu haben?«

Mara glaubte, sich verhört zu haben. Ihre Wut steigerte sich ins Unermessliche und ohne noch lange zu überlegen, rannte sie los, warf Eric zu Boden und schlug ihm voller Kraft ins Gesicht.

Überrascht blieb Eric einen Moment lang liegen, doch schnell versuchte er, sich zu wehren. Wie sah das denn aus, er unterlag beim Kämpfen einem Mädchen! Was sollten die Willems denn von ihm denken? Doch so einfach, wie er sich das vorgestellt hatte, ging es nicht. Mara kannte verdammt viele Kniffe und Tricks und parierte seine Angriffe sehr geschickt.

Erst nach einer Weile gaben beide erschöpft auf.

Verblüfft wischte sich Eric Blut von seiner Nase. Ihm war ja schon immer klar, dass Mara stark war, doch bis jetzt hatten sie immer nur zum Spaß im Garten miteinander gebalgt.

Es würde nicht leicht werden, in Zukunft gegen sie anzukommen.

Nachdem sich Mara vom Boden erhoben hatte, zogen sich die Bischofs schnell in ihr Lager zurück.

»Mensch Mara.« Angela reichte ihr ein Taschentuch. »Du blutest ziemlich stark. Der blöde Watts hat dir auf die Nase geschlagen. Wie konnte er nur? Er ist so gemein!«

»Hey, für ein Mädchen, warst du echt gut.« Anerkennend schlug Marian mit einer Hand auf Maras Schulter. »Das hätte nicht mal ich besser hinbekommen. Bist du in einem Verein, oder so?«

»Mein Vater übt oft Selbstverteidigungsstrategien mit mir. Er meinte, dass ich das sicher mal brauchen kann. Anscheinend hat er recht gehabt«, antwortete Mara fröhlich. Nicht, dass sie gewonnen hätte, aber dennoch fühlte sie sich als Siegerin.

Deprimiert registrierte Eric die vorwurfsvollen Blicke der Willemsbande.

»Das war schwach von dir«, meinte Robin als Erstes, während er an einem Schokoriegel kaute. »Die Thomas ist doch nur ein Mädchen.«

Thanee stieß ihn grob von der Seite an. »Hey, überleg dir gut, was du sagst, sonst bekommst du es mit mir zu tun. Ich fand Maras Mut super. Sie ist auf Eric wie eine Furie losgegangen. Wir haben ziemlich schnell ihre empfindliche Stelle gefunden.«

»Also, meinetwegen hättest du ihre Nase ruhig noch blutiger schlagen können. Das wäre bei diesen roten Haaren gar nicht aufgefallen«, sagte Stefanie, während sie in Erics Gesicht mit einem Tuch herumwischte.

»Soll das jetzt immer so ablaufen?«, warf Melanie neugierig ein.

»Ich habe keine Ahnung«, musste Eric zugeben. »Warten wir ab, was beim nächsten Aufeinandertreffen passiert.«

Er würde Mara … nein, von nun an würde er sie nur noch mit ihrem richtigen Namen ansprechen, schon noch beweisen, dass die Willems die bessere Bande waren.

Gleich am nächsten Nachmittag trafen die beiden Banden am See wieder aufeinander. Es hatte den ganzen Tag in Strömen gegossen, doch bei dem ersten Sonnenstrahl waren alle Kinder aus ihren Lagern ins Freie gelaufen.

Das Zusammentreffen gestaltete sich ähnlich wie am Tag zuvor. Eric lästerte wieder lauthals über Maras rote Haare, ihre Sommersprossen und ihre angebliche Unfähigkeit, ein guter Anführer zu sein.

Maras Wut steigerte sich wieder mit jeder Minute ins Unermessliche, dabei hatte sie sich doch so fest vorgenommen, diesmal nicht auf Eric loszugehen. Aber verdammt, er wusste ganz genau, wie er sie zur Weißglut treiben konnte.

Warum musste er diese normalen braunen Augen und solch schönes dunkles Haar besitzen? An ihm war einfach nichts, über das man hätte lästern können. Und genau das war der Grund, weshalb Mara mit der rechten Hand ausholte und ihm ins Gesicht schlug.

Unvorbereitet verlor Eric im Schlamm sein Gleichgewicht und rutschte auf dem nassen Boden aus. Sein hübsches Gesicht war vor Schmerz verzogen, als er verblüfft sein Auge berührte.

Sofort lief Stefanie zu ihm und wollte ihm helfen, doch Eric stieß sie widerwillig von sich, sodass auch sie auf den nassen Boden plumpste.

Dann sprang er schnell auf. Seine Wut spiegelte sich deutlich in seinen Augen wider. Blitzschnell rannte er los und stieß Mara nieder. Gleich darauf warf er sich auf sie und drückte ihre Hände auf den Boden. Doch Mara befreite sich sofort, nahm eine Ladung Schlamm und warf sie direkt in sein Gesicht.

Mit Wut im Bauch revanchierte er sich, darauf hoffend, endlich eine empfindliche Stelle bei ihr zu entdecken.

Mara lachte laut los, als sie Erics schwarzes Gesicht sah, sprang auf und lief mit dem Rest der Bischofs schnell davon.

»Verdammtes Luder!«, schrie der Willemsanführer ihr wütend hinterher.

»Oje, das wird ein blaues Auge.« Thanee berührte vorsichtig seine Wange und besah sich sein rechtes Auge. »Du warst noch immer viel zu sanft zu ihr.«

»Dieses rothaarige Biest!« Ratlos blickte Stefanie auf ihre schmutzigen Sachen. »Eric, das war so gemein von dir. Ich wollte dir nur helfen, wieso hast du mich weggestoßen?«

Eric lächelte sie vergnügt an. Wenigstens etwas Gutes hatten die letzten Minuten gebracht, die Fischer nervte ihn wirklich sehr.

»Also, ich fand es toll, wie ihr euch im Schlamm gewälzt habt«, meinte Robin schmunzelnd. »Aber eure Mütter werden das gleich wohl ganz anders sehen.«

Entsetzt blickte Frau Thomas ihre kleine Tochter an. »Wo hast du dich denn schon wieder herumgetrieben? Nun erzähl mir aber nicht, dass das dein neuer blauer Pullover ist!«

Mara nickte beklommen und blickte schuldbewusst auf ihre vor Dreck nicht wiederzuerkennenden Schuhe. An ihre Kleidung hatte sie keine einzige Sekunde gedacht, als sie auf die Willems gestoßen waren. Demnächst würde sie Ersatzkleidung zum Wechseln im Lager bunkern.

»Ich war bei den Bischofs und wir haben am See die Willems getroffen«, stammelte sie schließlich.

»Ach so, die Willems wieder!« Die Mutter stemmte ihre Arme in die Hüften. »Diese Ausrede wirst du jetzt wohl immer benutzen?«

»Es ist aber die Wahrheit.«

»Weshalb verträgst du dich nicht einfach wieder mit Eric? Ihr habt euch doch vor zwei Tagen noch so gut verstanden? Willst du die nächsten Jahre ständig so nach Hause kommen?«

»Ich werde mich nicht mit diesem Blödmann vertragen. Ich bin die Anführerin der Bischofbande und daran wird sich in den nächsten Jahren nichts ändern.«

»Womit habe ich das verdient?« Nun wieder lächelnd, blickte Lucy kurz zur Zimmerdecke. »Geh jetzt besser duschen, bevor du mir noch die ganze Küche einsaust! Ach, bevor ich es vergesse. Vorhin bekam ich die Zusage der Ballettlehrerin. Der neue Kurs startet am Donnerstag um sechzehn Uhr.«

Mara dachte kurz nach. Da sollte ein Bandentreffen stattfinden, aber eigentlich wollte sie auch gerne tanzen lernen.

»Sag nur, du willst jetzt nicht mehr? Ich habe die Kursgebühr schon überwiesen.«

»Ich möchte auf alle Fälle zum Ballett«, entschied Mara spontan. »Dann sehe ich die Bischofs halt donnerstags nicht.«

Dann lief Mara schnell in das Bad und duschte sich gründlich. Nein, natürlich wollte sie nicht jeden Tag ramponiert zu Hause erscheinen, doch für die Bande würde sie alles tun. Und sie freute sich schon riesig auf ihre erste Tanzstunde.

Zwei Tage später war es so weit.

Aufgeregt betrat Mara gleich nach ihrer Mutter einen der Übungsräume der Tanzschule.

Die Lehrerin, eine junge Frau im Tanztrikot, empfing sie beide lächelnd.

Während sie sich kurz mit der Mutter austauschte, sah Mara sich um. Die Wände des Raumes waren eine einzige große Spiegelfläche. Und an einer waren zwei lange Ballettstangen in verschiedenen Höhen angebracht.

Die Tür öffnete sich erneut. Entsetzt beobachtete Mara, wie Stefanie in Begleitung ihrer Mutter den Raum betrat.

Steffi erblickte Mara und verzog feindselig ihren Mund.

»Mist«, fluchte sie leise. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Sie konnte nur hoffen, dass die Thomas schnell das Interesse am Tanzen verlieren würde.

Mara beschäftigte in diesem Moment ein ähnlicher Gedanke.

Auch sie wünschte sich nichts sehnlicher, als das Stefanie den Kurs vorzeitig verlassen würde.

7. Kapitel

 »Sie kommen her!« Nervös zupfte Mara an ihrem Kleid herum. »Werde ich rot?«

Angela musterte Mara kurz. »Wie eine Tomate.«

»Verdammt!«

»Hallo«, begrüßte Kevin die drei am Tisch Sitzenden selbstsicher und zu Mara gewandt. »Was für ein Zufall! Wer hätte gedacht, dass wir uns so schnell wieder über den Weg laufen?«

»Hallo«, murmelte Mara überwältigt.

Spöttisch hob Eric eine Augenbraue. »Auf diesen Zufall hätte ich verzichten können. Hey, Jörn.«

»Hallo Eric«, sagte Jörn, blickte dann jedoch wieder zu Angela.

»Verzieh dich, Watts, sonst wird mir schlecht!« Angewidert verzog Mara ihren Mund und richtete ihren Blick schnell wieder zu Kevin.

»Das ist mir schon, seit ich dich heute früh in der Redaktion getroffen habe.« Zornig starrte Eric auf die Bischofanführerin, die schüchtern seinen Cousin anhimmelte. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Schnell wandte er sich um und erblickte zwei freie Plätze an einem von Mädchen besetzten Tisch.

»Dürfen wir uns zu euch setzen?«

»Natürlich!«, erscholl es kichernd. »Wir haben nichts dagegen.«

»Setz dich doch!«, bat auch Mara verlegen und mit heftigem Herzklopfen, doch Kevin schüttelte mit entschuldigender Miene den Kopf. »Ich gehe besser zu Eric, schließlich bin ich auch mit ihm gekommen. Er sieht es, glaube ich, nicht gerne, wenn ich mit dir spreche.«

»Ach?« Überrascht hob Mara ihren Kopf. »Er zieht dich in unseren Kampf hinein?«

Lächelnd hob Kevin seine Schultern und gesellte sich zu seinem schon auf ihn wartenden Cousin.

»Ob Kevin auf der Party sein wird?«, fragte Mara am darauffolgenden Samstag und blickte ihre beste Freundin nervös von der Seite an. »Ich möchte ihn noch einmal kurz sehen, morgen fährt er schon wieder nach Hause. Eigentlich müsste ich zu Hause bleiben, weil ich mich von der Blutabnahme noch ziemlich schwach fühle. Ich hoffe, dass dieser Test endlich zeigt, warum ich immer diese starken Bauchschmerzen habe und mir ständig übel ist. Ich konnte heute kaum etwas essen. An den Jazztanzkurs und das Ballett brauchte ich die letzten Wochen gar nicht erst zu denken. Das heißt, dass die Fischer einen Vorsprung hat.«

»Oh man, ich hoffe auch, dass es dir bald wieder besser geht. Aber ich hätte nie gedacht, dass du wegen eines Jungen mal so unvernünftig wirst. Eric wird Kevin sicher mitbringen. Ich verstehe nicht, weshalb du ihn so gut findest, schließlich sieht er Watts so verdammt ähnlich. Das lässt tief blicken«, antwortete Angela schmunzelnd.

»Wie meinst du das?«

Errötend blickte Angela sich kurz auf der Straße um. Sie wollte sichergehen, dass niemand sie hören konnte. »Na, wenn du Kevin toll findest, dann liegt es doch sehr nahe, dass du auch Eric …«

»Ach, spinn nicht rum!«, rief Mara empört. Leise sprach sie dann weiter. »Watts ist der größte Idiot auf Erden! Da hilft es nichts, dass er zugegebenermaßen nett aussieht. Er lässt mich mehr als kalt.«

»In Ordnung, ich habe es kapiert. Wir sollten uns etwas beeilen, die Party läuft schon eine Weile.«

»Hättest du nicht so lange vor dem Spiegel gestanden, wären wir pünktlich!«

»Hey, du hast genauso lange gebraucht«, erwiderte Angela, nun wieder lachend.

»Da seid ihr ja endlich!«, begrüßte Shirin die beiden Mädchen schon lautstark von Weitem. »Das Büfett ist eröffnet.«

»Sie hat einen sitzen«, bemerkte Angela naserümpfend. »Und das schon so früh.«

»Celine hat wohl einen Moment nicht auf sie geachtet.« Ruckartig blieb Mara stehen. »Da ist er.«

»Kevin?« Amüsiert glitt Angelas Blick zu dem Jungen. »Ob Eric mit siebzehn auch so …«

»Angela, das ist nicht witzig. Ich habe dich gebeten, dieses Thema zu unterlassen.«

»Schon gut. Oh, da ist auch Jörn. Heute frage ich ihn, ob er mit mir gehen will. Falls ich mich traue …«

Verständnisvoll umarmte Mara ihre Freundin. »Du brauchst keine Angst zu haben, er mag dich sicher auch.«

»Da vorn ist Jerome«, sagte Celine, die inzwischen mit Shirin an der Hand zu den beiden Mädchen getreten war. »Sieht er heute nicht wieder umwerfend aus?«

»Heiß«, murmelte Mara zustimmend. »Schaut mal, Melanie flirtet mit ihm. Wie die sich an ihn heranmacht ...«

»Ich dachte, sie ist mit Koch zusammen?«, bemerkte Angela spöttisch.

»Robin?« Shirin hielt sich kurz an ihr fest. »Der ist scharf, mit dem würde ich auch …«

»Ich würde ja noch lauter schreien«, fuhr Mara sie an. »Er ist ein Willem, kapiert? Geh nach Hause, bevor noch ein Unglück passiert!«

»Sie kann um diese Zeit nicht gehen«, flüsterte Celine beschwörend. »Unsere Eltern sind noch wach. Wenn sie Shirin in diesem Zustand sehen, bekommt sie ihr Leben lang Hausarrest.«

»Und was machen wir nun mit ihr?«, fragte Angela ratlos.

»Mir geht es gut«, lallte Shirin und torkelte einen Schritt zurück. »Was ist denn mit euch los? Sind wir auf einer Beerdigung? Hört mal, da läuft gerade Anton aus Tirol[1]! Ich schmeiß mich weg, was für ein dämliches Lied!« Spontan begann sie zu tanzen.

»Florian hat ein Zelt aufgebaut. Wir könnten sie erst einmal dort hineinlegen.«

»Das ist eine gute Idee.« Dankbar nickte Mara Celine zu und zog die torkelnde Shirin zu einem der Zelte, die am Strand aufgebaut waren.

»Ich will da nicht hinein«, rief Shirin protestierend, doch nachdem sie sich hingelegt hatte, schlief sie sofort ein.

Sie ist mir egal, vollkommen egal. Sie interessiert mich überhaupt nicht. Mit, wie er glaubte, regloser Miene beobachtete Eric Marie, die Shirin schimpfend über den Rasen zerrte.

»Hey, Eric. Du starrst sie wie ein Mondsüchtiger an«, bemerkte Kevin leise.

»Ist das so offensichtlich?«, flüsterte Eric verlegen.

Kevin nickte mitfühlend. »Schaff dir eine Freundin an, das hilft bestimmt.«

»Eine Freundin kann ich jetzt überhaupt nicht gebrauchen. Ich wüsste auch gar nicht, welche ich nehmen sollte. Mir gefällt keine so richtig.«

»Außer die Bischofanführerin, die dich auf den Tod nicht ausstehen kann«, schlussfolgerte Kevin. »Du bist wirklich nicht zu beneiden.«

»Sei bloß still«, murmelte Eric und sah sich schnell um. »Diese lästigen Gefühle bringen mir nur Ärger ein. Ihretwegen würde ich die Bande sofort weitergeben.«

»Seit ich Mara kenne, kann ich dich sogar verstehen.«

Eric warf seinem Cousin einen durchdringenden Blick zu. »Sie steht auf dich.«

»Hey, unsere Freundschaft ist mir wichtiger. Ich habe deshalb extra die ganze Woche versucht, mich von ihr fernzuhalten.«

»Ja, ich weiß.« Eric seufzte leise. »Eine Freundin, sagst du? Hm, wen könnte ich da fragen?«

»Die Rotblonde da drüben an der Eiche starrt dich schon eine ganze Weile lang an. Sie hat etwas von Mara.«

»Juliana Hintz? Das ist ihre Cousine.« Überrascht blickte Eric zu ihr hinüber. »Die geht in Retzhausen zur Schule. Sie sieht ihr tatsächlich ähnlich.«

»Na, das ist doch die optimale Lösung für all deine Probleme.«

»Sie sieht hübsch aus. Ihr Haar ist röter.«

»Geh zu ihr, sie wartet nur darauf!«

»Nun ja … in Ordnung, du hast mich überredet.«

»Hey, Mara, ich wusste gar nicht, dass Watts deine Cousine kennt.« Celine wies zu der alten Eiche neben den Zelten.

»Die kennen sich eigentlich auch nicht.« Neugierig blickte Mara hinüber.

Eric stand neben Juliana und unterhielt sich mit ihr, während diese ihn sichtlich anhimmelte.

Juliana gehörte nicht zu ihrem Freundeskreis, was hauptsächlich daran lag, dass sie sich von Anfang an über die Banden lustig gemacht hatte. Nur bei Familienfesten trafen die beiden Mädchen aufeinander und das reichte Mara vollkommen. Dabei mochte sie ihre Tante Tina, Onkel Steffen und ihre beiden kleinen Cousins sehr gerne.

»Er baggert sie an«, meinte Florian bewundernd. »Und ihr scheint es zu gefallen. Ich wünschte, ich wäre so mutig.«

»Watts sollte besser die Finger von ihr lassen. Na, er wird schon sehen, was er davon hat.« Mara wollte die beiden nicht mehr beobachten. Mit einem seltsam flauen Gefühl im Magen lief sie zu den Autos, die etwas weiter weg standen. Dort traf sie auf Jörn.

Er stand mit ein paar anderen Jugendlichen an einem VW.

»Hallo Jörn, ich muss mit dir sprechen«, begrüßte sie ihn lächelnd.

»Wir wollten uns gerade ins Auto setzen. Komm mit rein.«

»Klar.« Sie folgte seiner Einladung und ließ sich auf dem Rücksitz neben ihm nieder.

Mia drehte den Zündschlüssel und nur ein paar Sekunden später erschall laute Technomusik im Auto.

»Das ist der Mayday-Mix[2] von Paul van Dyk[3]«, rief sie nach hinten.

»Hier Mara, trink einen Schluck Wodka Zitrone!«, sagte Jörn und reichte ihr eine volle Flasche. »Der schmeckt echt gut.«

»Nun zünd schon endlich die Tüte an«, knurrte Alwin ungeduldig, und Mia holte schnell ein Feuerzeug und einen Joint aus ihrer Tasche.

»Oh, ich geh lieber wieder«, murmelte Mara. Sie hatte ein ungutes Gefühl bei der Sache, doch Jörn hielt sie am Arm fest. »Du kannst die Tür jetzt nicht öffnen, die Kippe ist schon an. Das zerstört die ganze Wirkung.«

»Na, meinetwegen, aber ich werde nicht mitrauchen.«

»Das ist mir total egal. Was wolltest du mich fragen?«

»Was hältst du von Angela?«

Jörn zog kurz an der gedrehten Zigarette. »Sie ist cool. Warum fragst du?«

Mara trank schnell einen großen Schluck Wodka. »Sie mag dich.«

»Ja?« Schmunzelnd reichte Jörn den Joint weiter. »Gut zu wissen.«

»Was wirst du jetzt unternehmen?«

»Mal sehen. Vielleicht frage ich, ob sie mit mir gehen will.«

Eine ganze Weile später stieg Mara mit einer nur noch ein Viertel vollen Flasche Wodka Zitrone aus dem Auto und schlug den Weg zurück zur Party ein. Schon von Weitem erkannte sie Angela, die sich ständig suchend umblickte, während sie sich mit Celine unterhielt.

»Angela, ich habe ihn gefragt«, rief Mara laut und strauchelte leicht, als sie über einen Stein stolperte.

»Ich habe Jörn gefragt, was er von Angela hält«, antwortete Mara gelassen. »Sie hätte sich doch heute wieder nicht getraut.«

»Was hast du?« Entsetzt packte Angela ihre Freundin an den Schultern. »Ich könnte dich umbringen! Wie konntest du nur?«

»Hey, bleib locker! Er findet dich cool und will wahrscheinlich auch mit dir gehen.« Mara trank kurz einen Schluck. »Wir saßen in Mias Wagen und wow … warte mal … jetzt dreht sich gerade alles … er hat mit Alwin und ihr einen Joint geraucht. Also, Angela, wenn du mich so sauer ansiehst … das sieht so komisch aus. Ich könnte mich totlachen.«

Tatsächlich brach sie in Lachen aus. Celine und Angela schüttelten beide entsetzt den Kopf.

»Du hast wohl zu viele Dämpfe eingeatmet«, bemerkte Celine schließlich, nachdem sich Mara wieder einigermaßen beruhigt hatte. »Und was soll eigentlich die Wodkaflasche? Erzähl mir nicht, dass du die allein getrunken hast. Du bist doch total hinüber. Leg dich lieber zu Shirin ins Zelt!«

»Blödsinn, der Abend hat doch gerade erst begonnen!« Strahlend drehte sich Mara im Kreis. »Mir geht es total gut! Habt ihr Kevin gesehen?«

»Er ist irgendwo da drüben.« Angela wies in eine unbestimmte Richtung. »Ich gebe dir einen Rat, geh lieber heim!«

»Nein, dein Gejammer ödet mich an. Was soll ich zu Hause?«

»Mach doch, was du willst, aber beschwer dich hinterher nicht bei mir!«

Ungeduldig wandte Angela sich um und lief zum Parkplatz.

»Ja, ja, renn nur zu deinem Jörn! Ich gehe jetzt zu Kevin«, beschloss Mara spontan. »Celine, interessiert dich hier überhaupt kein Junge?«

»Nein, nicht wirklich. Die besten sind schon vergeben«, antwortete Celine ehrlich, doch Mara hörte sie schon nicht mehr.

Celine beobachtete entsetzt, wie die Bischofanführerin stolpernd auf das Objekt ihrer Begierde zusteuerte, dann jedoch einen Schlenker vollführte.

Mara nahm einen letzten Zug aus der Wodkaflasche. Inzwischen war ihr Gehirn zu benebelt, als dass sie noch etwas mitbekommen hätte. Schnellen Schrittes lief sie auf den Jungen zu, der ihr so sehr gefiel, und umarmte ihn.

»Hallo Kevin, ich liebe dich«, brachte sie noch mühsam hervor, bevor sie ihn küsste.

Doch schon nach einem kurzen Moment wurde sie zurückgestoßen.

»Ich bin Eric und nicht Kevin«, hörte sie den Anführer der Willems sagen.

»Ist doch egal, du küsst so gut«, hauchte Mara, die nicht mehr wusste, was sie tat, und küsste ihn erneut sehnsuchtsvoll.

»Nein, verdammt!«, fluchte Eric und stieß sie ein weiteres Mal so heftig von sich, dass sie zu Boden fiel. »Was ist mit dir los? Bist du betrunken?«

»Mara!«, schrie Celine, die sofort angerannt kam, wütend. »Wie konntest du nur?«

»Du blöde Ziege, das ist doch nicht dein Ernst!«, kreischte Juliana erzürnt.

»Wow, die ist mehr als stoned«, meinte Stefanie, die nur wenige Meter entfernt stand, grinsend.

»Was … Watts? Ich …«, konnte Mara nur noch flüstern, bevor sie sich vor ihm auf dem Rasen übergab.

»Ich kann es nicht fassen.« Naserümpfend drehte Eric sich von ihr weg. »Ist das eklig.«

»Das war echt filmreif«, sagte Thanee grinsend. »Wenn die Süße morgen wieder klar im Kopf ist, wird sie sich zu Tode schämen. Hey Eric, diese Geschichte kannst du ihr auch noch in einem Jahr vorwerfen. Genauso, wie sie es mit dir immer macht.«

[1] Song von DJ Ötzi, Veröffentlichung 1999

[2] Veranstaltung der elektronischen Tanzmusik, findet jährlich in den Westfalenhallen in Dortmund statt.

[3] Deutscher DJ, Musikproduzent und Hörfunkmoderator (*16.12.1971)

1. Kapitel

Sechsundneunzig Jahre später.

»Hallo Vincent« Mara Thomas[1], die ehemalige Anführerin der Bischofbande, wartete erst eine Minute vor dem Lager, als auch schon die neuen Anwärter, sechs Zweitklässler, auftauchten.

Vincent war der kleine Bruder eines ehemaligen Bandenmitglieds, und sie kannte ihn schon seit seiner Geburt.

»Hallo Mara, ich wurde zum Bandenanführer gewählt. Marian ist sehr stolz auf mich«, hörte sie ihn fröhlich sagen.

»So, du willst mich also ablösen?« Mara lächelte ihn gutmütig an. Sie war sich sicher, dass der Kleine ein guter Anführer werden würde. »Kommt, lasst uns in das Lager gehen!«

»Ich wette, dass die Willems die blöde Bodt zu ihrem Boss machen«, meinte er dann, nachdem er es sich auf dem Anführerstuhl bequem gemacht hatte.

»Janice ist doch ein nettes Mädchen«, erwiderte Mara verwundert. Janice war die kleine Schwester von Thanee und Celine, die ebenfalls ehemalige Mitglieder der Bischofbande waren.

»Ach, die spielt sich in der Schule immer auf und außerdem sieht sie aus wie eine Krähe.«

»Nun, wie auch immer.« Mara stand entschlossen auf. »Kommen wir nun zum Grund eures Erscheinens.«

Eric Watts[2], der frühere Anführer der Willemsbande, blickte zu den sechs kleinen Kindern hinunter, die ihn gespannt ansahen. 

»Ihr wollt also die neuen Willems werden?« Er schaute jedem Einzelnen forschend ins Gesicht. Die kleine Gruppe bestand aus drei Jungen und drei Mädchen.

»Können wir endlich anfangen?«, meldete sich eines der Mädchen mit sehr ungeduldiger Stimme.

»Sicher!« Eric räusperte sich kurz. »Wer von euch soll der Anführer werden?«

Die Kinder tauschten kurz Blicke untereinander aus und zeigten dann alle einstimmig zu dem Mädchen, welches sich eben zu Wort gemeldet hatte.

Sie hatte rabenschwarze Haare, graue Augen und eine süße Stupsnase.

»Ich heiße Janice Bodt.«

»Ah, du bist die kleine Schwester von Shirin und Celine. Die Ähnlichkeit zwischen euch ist nicht übersehbar.«

»Du redest ja so nett über die damaligen Bischofmädchen«, brummte Janice verstimmt.

»Hey Kleine, vergiss nicht, dass ich keiner Bande mehr angehöre«, antwortete Eric nachsichtig. »Kommen wir jetzt zu dem eigentlichen Thema.«

Er wies auf die Bücher, die vor ihm lagen. »In der Chronik steht alles über die Geschichte der Banden. Die ursprünglichen Bandenbücher sind leider verschwunden, aber Ende der 60er-Jahre fand die Bischofbande ihre Bücher in einem geheimen Versteck in ihrem Lager. Wir denken, dass in den Wirren des Zweiten Weltkrieges die Übergabe der Banden nicht vorschriftsmäßig verlief und die Bücher einfach vergessen wurden. Unsere Originale sind leider nie wieder aufgetaucht, auch nicht, als das Willemslager neu erbaut wurde. Wie auch immer, die Bischofbücher wurden kopiert, deshalb ist der erste Teil sehr … bischoflastig. In dem Willemsbuch findet ihr alle Gesetze, Hinweise und Wissenswertes. Lest sie euch als Erstes durch. Ihr müsst euch im Klaren darüber sein, dass die Bischofs eure … Feinde sind und ihr sie hassen und bekämpfen müsst.«

»Ich glaube, dass wir gute Willems werden, denn ich hasse die Bischofbande schon jetzt«, rief Janice laut und selbstbewusst in den Raum.

»Ihr müsst die Tradition weiterführen, ich verlasse mich auf euch. Vergesst aber nie, dass alles nur ein Spiel ist. Ich will damit sagen, dass ihr euch nicht gegenseitig verletzen sollt. Ach ja, passt auf, dass ihr euch nicht in jemanden von den Bischofs verliebt. Wenn das geschieht, könnt ihr die Bande gleich weitergeben.«

»Ihh!«, war die Reaktion der Kleinen.

»Das ist dir wohl passiert?«, fragte Janice interessiert.

»Weshalb sollte ich dir das wohl erzählen?«, fragte Eric leicht errötend. Die jüngste Bodt-Tochter besaß ein schnelles Auffassungsvermögen. Der neue Bischofanführer würde es nicht leicht mit ihr haben.

»Ich verlasse euch nun. Macht das Beste aus den nächsten Jahren.«

Janice beobachtete, wie der junge Mann das Lager verließ.

»So, Willemsbande«, begann sie dann ihre Amtsantrittsrede. »Ich kann kaum glauben, dass wir jetzt wirklich hier im Lager sind. Man, bin ich froh, dass nur Kinder hier sitzen, die ich wirklich gut leiden kann. Alexandra Kaiser, Jonas Gräber, Leonie Breuer, Emilia Rieke, Jan Thesing … ich begrüße euch zu unserem neuen Lebensabschnitt.«

»Ich bin sicher, dass die Bischofs Vincent zum Anführer wählen werden«, meinte Alexandra, ein eher unauffälliges Mädchen mit dunkelblonden Haaren und Brille, leise.

»Das denke ich auch.« Janice schlug die Willemschronik zu und legte das Buch in einen kleinen Schrank, der an der Wand stand. »Um das Amtliche kümmern wir uns später. Jetzt gehen wir die verdammte Bischofbande suchen und finden heraus, ob unsere Vermutung stimmt.«

Der Rest der Kinder nickte. Sie sprangen von ihren Sitzplätzen auf und verließen wild durcheinander plappernd das Lager.

Nur wenige Minuten später trafen die Banden am See aufeinander. Argwöhnisch betrachteten sich Janice und Vincent. Wie Tiere am Beginn eines Kampfes umrundeten sie sich langsam, so als würden sie versuchen, die Kraft und Schnelligkeit des Gegners einzuschätzen.

»Du bist also der neue Bischofanführer?«, stellte Janice ärgerlich fest. »Ihr hättet euch keinen größeren Idioten aussuchen können.«

Vincent ballte seine kleinen Hände zu Fäusten. »Ein Mädchen als Willemsanführerin und dann noch so eine olle Krähe! Dich schaffe ich allemale!«

»Bilde dir nur nicht so viel ein, Blondie. Du wirst dich noch wundern.«

»Du willst dich doch nicht ernsthaft mit mir schlagen?«, fragte Vincent und musterte sie skeptisch. »Ich will dir nicht wehtun.«

»Oh, wie liebenswürdig«, rief Leonie amüsiert. »Na, wer hätte das gedacht.«

Jonas und Jan blickten sich kurz an und traten dann neben Janice.

»Du kannst dich auch gern mit uns messen«, meinte Jan selbstbewusst.

»Ja, Pauls, du hast die Wahl!«, sagte auch Jonas.

Vincent rief kurz die Jungs seiner Bande, Roman Hake, Fabian Winter und Johannes Dickel zu sich und plötzlich stand es zwei gegen vier.

»Nicht sehr ausgewogen würde ich meinen«, sagte er dann, Mitleid heuchelnd.

»Kommt, zwei von uns schaffen doch locker einen von den Jungen«, flüsterte Emilia zu Alex und Leonie. »Wir können Janice jetzt nicht hängen lassen.«

Die anderen Mädchen waren einverstanden und traten ebenfalls geschlossen vor.

Janice verstand den Wink. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, ging sie auf Vincent los.

»Das nenne ich mal einen ereignisreichen Tag«, erzählte Alexandra am Abend aufgeregt, während ihr Vater ihre Schürfwunden mit Pflastern versorgte. »Ich bin jetzt in der Willemsbande. Janice Bodt ist unsere Anführerin.«

»Und als Erstes musstet ihr euch mit den Bischofs prügeln«, stellte ihre Mutter besorgt fest.

»Natürlich. Wir mussten schließlich herausfinden, wie stark sie sind und wie wir sie am besten bekämpfen können.«

»Kommt mir bekannt vor«, meinte ihr Vater schmunzelnd. »Mir ging es damals, als ich Willemsanführer wurde, genauso.«

»Mir nicht!«, rief Jane[3] erbost. »Man muss sich nicht schlagen. Als ich Bischofanführerin wurde, haben wir so etwas nicht gemacht.«

Christian Kaiser zwinkerte seiner Frau amüsiert zu. »Ich hätte dich ja auch lieber geküsst, seit ich dich das erste Mal sah, als mit dir über Bandenkram zu diskutieren.«

»Jetzt kommt das wieder!« Genervt verdrehte Alex ihre Augen. »Müsst ihr schon wieder anfangen zu turteln?«

»Auf alle Fälle.« Christian strich seiner Tochter sanft über das Haar. »So, deine Kampfwunden sind versorgt. Zeit für das Bett.«

Alex nickte und lief ins Bad.

Jane blickte ihr kopfschüttelnd nach. »Ich hatte gehofft, dass ich wenigstens bei ihr mit den Banden verschont bleibe.«

»Ist doch nicht so schlimm. Wie man sieht, hat Alexandra Spaß daran«, meinte Christian schmunzelnd und zog seine Frau an sich ran. »Das werden wir auch noch überstehen.«

8. Kapitel

Juli 2009.

Eine Woche vor Beginn der Sommerferien veranstaltete die Schule eine Projektwoche.

In allen Altersstufen konnten die Schüler Kurse wählen, in denen sie sich Projekte ausdachten, erarbeiteten und dann den anderen Schülern vorstellten. Anschließend sollte ein Fest mit Livemusik stattfinden.

Alex besuchte den Geschichtskurs. Hier traf sie allerdings niemanden aus den Banden. Und so war es für sie eine ganz neue Erfahrung, nur mit normalen Leuten zusammen zu sein und eine Woche mit ihrem zweiten Lieblingsthema zu verbringen.

Marc hatte sich für den Musikkurs entschieden.

Mit seiner Gitarre bewaffnet, betrat er am Montagmorgen den Musikraum.

Hier warteten schon mehrere Schüler auf den Beginn des Kurses. Auch die Kursleiterin war schon da.

»Hallo Marc, such dir einen Platz. Wir beginnen gleich mit dem Projekt«, begrüßte Frau Böhm ihn und blickte stirnrunzelnd auf ihre Uhr.

Kurz nach ihm lief Hannah Tillner außer Atem in den Raum und ließ sich schnell auf einem Stuhl in der Nähe der Tür nieder. Auch sie hatte eine Gitarre dabei.

»Hallo Hannah«, sagte Frau Böhm nun lächelnd. »Jetzt sind wir vollzählig und können beginnen.«

Marc musterte die anderen Kursteilnehmer. Er kannte natürlich alle, aber er hatte nicht gewusst, dass sie Instrumente beherrschten.

Ach, warum war ausgerechnet die Tillner hier? Seit dem Zusammenstoß beim Zelten ging sie ihm nicht mehr aus dem Kopfe und das wurmte ihn.

Frau Böhm sprach von der Abschlussveranstaltung und ihrem Wunsch, dass dieser Kurs dort die erlernten Stücke zwischen der Vorstellung der Projekte aufführen sollte.

Sie teilte Blätter aus, auf denen Musikstücke für Duos und Trios standen.

»Das sind klassische Stücke«, stellte Marc verwundert fest.

»Das stand so in der Kursbeschreibung«, murmelte Hannah belustigt.

Marc warf ihr einen bösen Blick zu, der sie verlegen erröten ließ.

Schnell hatten sich Duos und Trios gebildet und Marc vermutete, dass die Schüler sich schon im Vorfeld dazu abgesprochen hatten.

Allein er und Hannah blieben übrig.

»Das geht nicht!«, stellte er im festen Ton fest. »Ich kann nicht mit der Tillner zusammenarbeiten.«

»Ihr spielt beide Gitarre«, meinte die Lehrerin, die nicht aus Weißwald kam und der die Banden ziemlich egal waren, beschwichtigend. »Ich habe hier auf der Liste ein Duostück für klassische Gitarre. Schau mal bei der Nummer fünf.«

»Morgenstimmung von Edvard Grieg[4] aus der Peer Gynt Suite Nr. 1, Opus 23[5]?«, las Marc entsetzt. »Ich habe noch nie etwas Klassisches gespielt.«

»Na und?«, fragte Hannah, die inzwischen mit ihrem Instrument zu ihm getreten war. »Hast du Angst vor einer Herausforderung? Willst du nichts Neues lernen?«

»Ich bin nicht ängstlich«, fuhr Marc sie erbost an. »Ich will nur nicht mit dir zusammenarbeiten.«

Hannah ließ sich jedoch nicht beirren. Sie nahm die Unterlagen, die Frau Böhm inzwischen von ihrem Schreibtisch geholt hatte, und studierte sie kurz.

»Okay, dann schauen wir mal. Die Komposition besteht aus zwei Teilen, in denen die Melodie immer nacheinander in der ersten und zweiten Gitarrenstimme liegt. Wir wechseln uns bei der Melodiestimme und der Begleitung also ab. Na, das ist doch nicht so schwer. Das bekommt jeder mit etwas Übung hin. Das Stück ist in Notenschrift und Tabulatur ausnotiert. Was kannst du besser lesen?«

»Ich kann beides«, knurrte Marc und riss ihr die Blätter aus der Hand. »Zeig mal her!«

Schließlich ergriff er seine Gitarre und probierte, die ersten paar Takte zu spielen.

Hannah ließ sich auf einem Stuhl neben ihm nieder und fixierte ihn mit kritischem Blick.

»Was ist?«, knurrte Marc sie schließlich an.

»Du hältst den Daumen am Griffbrett falsch«, bemerkte Hannah trocken.

»Meinst du?« Marc blickte kurz auf seine linke Hand. »Wie macht man es denn, deiner Meinung nach, richtig?«

Hannah ergriff ihre Gitarre und zeigte ihm ihre Technik.

Marc beobachtete sie genau und neidlos musste er zugeben, dass sie recht hatte.

Sie nahm ihre Noten, legte sie vor sich und begann, die Morgenstimmung zu spielen.

Die anderen Schüler hatten dem Wortwechsel gelauscht. Da aber nun nichts Interessantes mehr passierte, widmeten sie sich ihren eigenen Musikstücken.

»Wo werden wir üben?«, fragte Hannah plötzlich. »Alle können wohl schlecht hierbleiben. Wenn jede Gruppe ihre Musikstücke hier einstudiert, würde ja das reinste Chaos entstehen.«

»Ja, darüber habe ich mir natürlich Gedanken gemacht«, antwortete Frau Böhm. »Wir haben aktuell drei Duos und zwei Trios. Leider haben wir nicht genügend Räume. Wir treffen uns die Woche über morgens hier. Wir werden die Fortschritte der einstudierten Stücke hören und besprechen. Anschließend möchte ich euch bitten, zu Hause zu üben. Anders bekommen wir es leider nicht hin.«

Oh nein, dachte Marc erschüttert. Auf keinen Fall würde er Hannah mit zu sich nehmen. Er konnte sich lebhaft vorstellen, was die Willems dazu sagen würden.

»Dann treffen wir uns morgen früh um acht Uhr wieder hier. Gibt es noch Fragen oder Unklarheiten?«

Die jungen Musiker schüttelten verneinend ihre Köpfe, packten ihre Instrumente ein und verließen nach und nach das Klassenzimmer.

Nach ein paar Minuten befanden sich nur noch Marc und Hannah in dem Raum.

»So ein Mist«, entfuhr es Marc schließlich. »Hätte ich das vorher gewusst, wäre ich in einen anderen Kurs gegangen.«

Hannah musterte ihn lächelnd. »Warum? Wegen mir oder wegen der klassischen Musik?«

»Wegen dir natürlich«, murmelte Marc und stand auf. »Die Morgenstimmung werde ich schon hinbekommen.«

Hannah erhob sich nun ebenfalls. »Wir können bei mir üben. Ich wohne näher an der Schule.«

Seufzend ergab sich Marc in sein Schicksal und folgte ihr.

Neugierig betrachtete er wenig später das alte Backsteinhaus der Tillners. Der Vorgarten war liebevoll mit verschiedensten Blumen bepflanzt und der schmale Weg, der zum Haus führte, war von mehreren Rosenstöcken umsäumt.

Nervös folgte er Hannah in das Haus. 

»Meine Mutter ist in ihrer Musikschule und mein Bruder ist im Sportkurs. Die kommen sicher nicht so bald nach Hause«, sagte Hannah und zog ihre Schuhe aus. »Wir üben am besten im Wohnzimmer. Da ist die Akustik ganz gut.«

»Meinetwegen«, meinte Marc und folgte ihr weiter hinein in das gemütlich eingerichtete Haus. »Und wo ist dein berühmter Vater?«

»Der ist gerade in Hamburg und produziert mit einer ziemlich bekannten Band ein neues Album. Er wird am Wochenende wieder hier sein.«

»Schade, den hätte ich gerne mal kennengelernt.«

Hannah hob nur desinteressiert ihre Schultern. »Er ist ein ganz normaler Typ.«

Beide ließen sich auf den an weitesten voneinander entfernten Sesseln nieder und packten ihre Instrumente aus.

»Warum bist du heute mit Gitarre und nicht mit Violine zum Kurs gekommen?«, fragte Marc schließlich neugierig.

»Ich spiele lieber Gitarre«, antwortete Hannah. »Violine habe ich auf Wunsch meiner Großeltern gelernt.«

Sie reichte ihm seine Notenblätter und zusammen begannen sie, das Stück einzuüben.

»Ich brauche eine Pause«, sagte Hannah schließlich nach zwei Stunden intensiver Arbeit. »Hast du Hunger?«

Marc nickte und folgte ihr in die Küche.

»Ich mache eine Tortilla, in Ordnung?« Hannah wartete nicht auf eine Antwort und stellte Eier, Kartoffeln, Zwiebeln, Olivenöl und Salz auf die Arbeitsfläche des Tresens, der in einem kleinen Abstand zur Küchenzeile stand.

»Mir egal«, meinte Marc nur, ließ sich auf einem Barhocker am Tresen nieder und beobachtete das Mädchen bei ihrer Arbeit.

Plötzlich erinnerte er sich wieder daran, dass sie eine Bischof und er der Anführer der Willems war. Verdammt, warum hatte er die ganze Zeit nicht daran gedacht? Klar, die Musik hatte ihn alles andere vergessen lassen.

»Und wie ist es so, in einer Bande zu sein, die von einem Volltrottel angeführt wird?«, begann er zu sticheln.

Ruckartig hob Hannah, die gerade eine Kartoffel in kleine Würfel schnitt, ihren Kopf und sah ihn böse an.

»Hey, wie kannst du es wagen …«

»Und überhaupt, Winter, Dickel und Hake sind auch die totalen Flaschen. Es muss schwer sein, immer nur von Schwachköpfen umgeben zu sein.«

Wütend ergriff Hannah ein Ei und warf es nach ihm. Es landete auf seinem Kopf und zerbrach. Die Flüssigkeit lief an seinen Haaren herab und tropfte auf sein Shirt.

»Spinnst du?«, rief er perplex. Spontan griff er nach einer Tomate und bewarf Hannah damit. Diese landete auf dem grünen Kleid, das sie trug.

Hannah schrie kurz auf und griff nach einem weiteren Ei. Auch das erreichte sein Ziel, obwohl Marc sich wegduckte.

Er blickte sich kurz in der Küche um und entdeckte neben dem Herd eine Papiertüte voll Mehl. Schnell lief er dorthin, riss sie auf und schüttete sie über Hannah aus, die es nicht fassen konnte.

Sie griff nach der Packung Salz, die vor ihr stand, riss sie ebenfalls auf und schleuderte sie ihm ins Gesicht.

»Was ist denn hier los?«, rief plötzlich eine Frauenstimme entsetzt.

Marc und Hannah blickten erschrocken zur Küchentür.

»Ich wollte Mittagessen machen«, stotterte Hannah verlegen, während eine Menge Mehl aus ihren Haaren an ihr herunterrieselte.

»Und dabei verwüstet ihr meine Küche? Bist du nicht Marc Engel? Ist das nicht der Willemsanführer? Was will der denn hier?«

»Äh ... «, begann Marc.

»Wir müssen zusammen ein Gitarrenstück einstudieren«, fiel ihm Hannah ins Wort. »Es ist doch Projektwoche und wir sind im gleichen Kurs.«

Charlotta[6], ehemaliges Mitglied der Bischofbande, schüttelte ungläubig den Kopf. »Da macht man einmal eher frei und dann so etwas! Ich werde jetzt zum Supermarkt fahren und einkaufen. Wenn ich wiederkomme, seid ihr und die Küche sauber, verstanden?«

»Verstanden«, antworteten Hannah und Marc gleichzeitig.

Frau Tillner wandte sich um und lief zur Haustür. Erst als sie im Auto saß, begann sie laut zu lachen.

Wie gut, dass ich ein Foto mit dem Handy gemacht habe, dachte sie. Aber nun würde sie erst mal Eier, Tomaten, Salz und Mehl kaufen müssen.

[1] Mara Thomas: Mara und die Bischofbande, vierter Band

[2] Eric Watts: Mara und die Bischofbande, vierter Band der Reihe

[3] Jane: Dana und die Bischofbande, dritter Band

[4] Edvard Grieg: Norwegischer Pianist und Komponist der Romantik (*15. Juni 1843, †4. September 1907)

[5] Peer Gynt Suite Nr. 1, Opus 23: Orchesterstück von Edvard Grieg zum gleichnamigen dramatischen Gedicht von Henrik Ibsen, gehört zu den bekanntesten Stücken der romantischen Musik, Uraufführung 24. Februar 1876

[6] Charlotta: Jessi und die Bischofbande

1.Kapitel

In der Mittagspause stellten sich Marc und Vincent einem der Erstklässler in den Weg.

»Wir geben die Banden weiter«, sagte Vincent freundlich lächelnd.

»Entscheidet, wer in welche Bande kommt«, fiel Marc ihm ins Wort.

»Und um fünfzehn Uhr treffen wir uns dann in den jeweiligen Lagern und weisen euch ein«, sprach Vincent weiter.

Till Breuer nickte strahlend. »Alles klar. Man, wie cool!« Schnell rannte er in das Schulgebäude.

Jubelnd betrat er kaum eine Minute später den Klassenraum.

»Die Banden werden heute um drei Uhr weitergegeben!«, rief er.

Der eben noch laute Stimmenpegel verebbte.

Sprachlos schauten ihn seine Klassenkameraden an.

»Ehrlich?«, fragte David Bischof erfreut. »Woher weißt du das?«

»Die Bandenanführer haben mich draußen gerade angehalten und es mir gesagt.«

»Ich will auf alle Fälle zu den Bischofs«, meldete sich Emma Pauls. »Mein Papa war auch ein Bischof.«

Daraufhin brach ein großes Geschrei aus.

Frau Wollnik betrat den Klassenraum und ahnte sofort, was los war.

»Guten Morgen! Die Banden werden weitergegeben, vermute ich?«, sprach sie laut, um alle Kinder zu übertönen.

Schnell verstummten die Kleinen, liefen zu ihren Plätzen und setzten sich.

»Also gut.« Alice ließ sich auf ihrem Stuhl hinter dem Lehrerpult nieder. »Dann erledigen wir diese wichtige Angelegenheit sofort und beginnen danach mit dem Unterricht. Wer von euch möchte in eine Bande?«

Vierzehn der zwanzig anwesenden Kinder erhoben ihre Hand.

»Es wird folgendermaßen ablaufen. Ich bastle jetzt vierzehn Lose. In jeweils sechs wird Bischof oder Willem stehen. Die restlichen zwei sind leider Nieten.«

Schnell schnitt Alice die Lose zurecht, beschriftete und faltete sie.

»Ich gehe jetzt durch die Reihen und jeder, der möchte, zieht ein Los.«

Die vierzehn Kinder griffen einzeln in die Dose, in der die Lehrerin die Papierstückchen hineingetan hatte, und entfalteten es rasch.

Amüsiert hörte Alice die Kinder flüstern, wer von nun an in welcher Bande sein würde. Zum Glück hatten die Bischofzwillinge die richtigen Lose gezogen. Sie waren in die Bischofbande gekommen. Was, wenn sie Willemslose gezogen hätten?, fragte sich Alice nachdenklich. 

»Wir werden wohl Änderungen im Sitzplan vornehmen müssen«, seufzte sie schließlich lächelnd. »Alle Bischofs sitzen von nun an in der Fensterreihe und die Willems kommen in die Wandreihe.«

Nachdem die Kinder ihre Plätze getauscht hatten, trat Alice vor die Tafel.

»Und nun kommen wir zu meinem Bandengesetz«, sagte sie ernst. »Hier in der Schule toleriere ich keine Bandenauseinandersetzungen. Dafür habt ihr nachmittags genügend Zeit. Habt ihr verstanden?«

Die neuen Bandenmitglieder nickten.

Nach dem Pausenklingeln rief David alle Bischofmitglieder zu sich.

Franziska Bischof, seine Zwillingsschwester, Niklas Hintz, Emma Pauls, Till Breuer und Lea Glasner versammelten sich schnell um ihn.

»Till sagte, dass wir um fünfzehn Uhr am Lager sein sollen.« David musterte die Kinder vor sich. »Ich bin dafür, dass wir uns vorher treffen und gemeinsam zum Lager gehen.«

»Warum redest du in so einem bestimmenden Ton?«, fuhr ihm Niklas ins Wort. »Du willst wohl Anführer werden?«

David hob verwundert seine Schultern. »Ich bin ein Bischof. Da ist das doch klar, und außerdem war mein Vater schon Anführer.«

»Na und, mein Vater war ebenfalls Anführer. Im Gegensatz zu deinem sogar Anführer der Bischofbande. Das heißt noch lange nicht, dass du es auch kannst«, fuhr Niklas ihn an.

»Du willst also auch Anführer werden!«, stellte David erzürnt fest. »Na, das fängt ja gut an.«

»Hört mal Leute, so wird das nichts«, ging Franziska dazwischen. »Wie kommt ihr eigentlich darauf, dass ihr einfach bestimmen könnt, wer Anführer wird?«

»Genau«, meinte auch Lea. »Ich dachte, der Anführer wird von dem Rest der Bande gewählt.«

»Ja, dafür bin ich auch.« Till klopfte den beiden zerknirscht aussehenden Jungen auf die Schultern. »Und der Verlierer muss das Ergebnis akzeptieren!«

Emma wies zu den Willems. Die gegnerische Bande stand am anderen Ende des Klassenzimmers. Auch sie diskutierten leise miteinander.

»Wie es aussieht, wissen die auch noch nicht, wen sie wählen sollen.«

Clara Watts stand mit Laura Ziegler, Noah Winter, Maximilian Förster, Elias Kierdorf und Greta Arens zusammen.

»Wer will Anführer werden?«, fragte Greta schüchtern und errötete sofort verlegen.

Noah, Elias und Clara hoben kurz ihre Hand.

»Es gibt also mehrere Bewerber«, stellte Laura fest. »Was machen wir denn da?«

Elias räusperte sich kurz. »Mein Opa hat erzählt, dass sie bei ihm damals eine geheime Abstimmung gemacht haben.«

»Das hört sich sinnvoll an«, meinte Maximilian. »Ich würde sagen, dass wir die Wahl heute Nachmittag im Lager durchführen.«

Es klingelte und die Kinder begaben sich zurück zu ihren Schulbänken.

Leise seufzend blickte Clara hinüber zur Wandreihe. Dort saßen Franziska und Emma, zwei ihrer besten Freundinnen. Die beiden würde sie ziemlich vermissen.

»Mama«, rief Clara fröhlich, als sie das Haus betrat. »Die Banden werden heute an uns weitergegeben. Ich muss gleich am Willemslager sein.«

Schnell kam die Mutter auf sie zu und packte sie bei den Schultern.

»Nein, auf keinen Fall!«, rief Mara[1] entsetzt. »Du gehst nicht in eine Bande!«

»Warum nicht?«, erwiderte Clara verwirrt. »Du und Papa wart damals beide Anführer.«

»Ja, genau deshalb.« Mara schüttelte heftig ihren Kopf. »Ich weiß aus Erfahrung, was da auf dich zukommt.«

»Ist irgendwas passiert?«, fragte Eric, der eben noch im Garten gearbeitet hatte, von dem Lärm angelockt.

»Papa, ich bin in der Willemsbande! Sie wird heute um fünfzehn Uhr an uns weitergegeben.«

»Na, das ist doch super!«, sagte ihr Vater lächelnd.

»Nein, das ist es nicht«, schimpfte Mara wütend. »Ich will nicht, dass mein Baby sich von nun an ständig mit anderen Kindern prügeln muss.«

»Ach, komm! So oft haben wir uns doch gar nicht geschlagen.«

»Doch, haben wir. Mutter hat ständig neues Pflaster kaufen müssen. Mein Gott, was hat sie sich immer darüber beklagt.«

Eric umarmte seine Frau zärtlich. »Ich habe dich ganz schön geärgert damals, oder?«

»Ich vermisse immer noch den blauen Pullover, den du verbrannt hast«, brummte Mara verstimmt.

»Könnt ihr eure Erinnerungen später austauschen?«, fragte Clara grinsend. »Was ist jetzt? Darf ich zu den Willems?«

»Ich möchte nicht, dass meine Kleine allein im Wald herumrennt. Was da alles passieren kann! Die Zeiten haben sich geändert.«

»Clara ist doch nicht allein«, fiel Eric ihr, nun im ernsten Tonfall, ins Wort. »Die Banden sind immer zu sechst unterwegs. Sie sind an der frischen Luft, nicht vor dem Fernseher und machen wenigstens keinen Blödsinn in der Zeit. Ich denke, in einer Bande zu sein, ist das Beste, was unserem Kind passieren kann. Du kannst sie nicht immer nur behüten.«

Mara dachte kurz nach.

»Aber muss es unbedingt die Willemsbande sein?«, fragte sie schließlich bockig.

Erleichtert lachte Clara. »Da musst du dich bei dem Los beschweren, das ich gezogen habe.«

»Also gut«, gab sich Mara geschlagen. »Aber ich möchte nicht, dass du dich verletzt. Pass immer schön auf dich auf, in Ordnung?«

Genervt verdrehten Clara und ihr Vater die Augen, dann brachen beide in Lachen aus.

Es klingelte. Mara ging zur Ladestation und griff nach dem Telefon.

»Hallo Marian«, sagte sie lächelnd. »Ja, ich habe es schon gehört. Ich hasse den Gedanken daran, aber Eric und Clara haben mich überstimmt … Oh, Emma ist bei den Bischofs? Na super. Dann sind unsere Kinder von nun an verfeindet. Das fehlt mir gerade noch. Wie hat Steffi das aufgenommen?«

»Also, du wirst gleich ein Willem werden?«, fragte Eric seine Tochter schmunzelnd. »Das finde ich total gut. Habt ihr schon einen Anführer gewählt?«

»Den wählen wir gleich nach der Übergabe. Noah, Elias und ich haben uns zur Wahl gestellt. Man, bin ich gespannt, wer es wird.«

»Willst du unbedingt Anführerin werden?«

»Ach, das ist mir eigentlich egal.« Clara winkte ab. »Ich bin nicht böse, wenn ich es nicht werde.«

»Aus Erfahrung kann ich dir sagen, dass es ziemlich blöd ist, wenn du jemanden in der Bande hast, der ebenfalls den Job will. Jeder kleine Fehler wird dir dann vorgehalten. Aber du wirst ja eh gleich lesen können, was deine Mutter und ich so während unserer Bandenzeit angestellt haben. Es steht ja vieles in der Chronik.«

»Oh, stimmt«, warf Mara ein. »Clara, du kannst dann gerne mal die Chronik der Willems mitbringen. Es würde mich brennend interessieren, was dein Vater damals über mich geschrieben hat.«

Eric lachte erneut laut auf.

»Oje, besser nicht. Nicht, dass das noch zu einer Ehekriese führt.«

Mara lachte ebenfalls.

»Schlimmer als meine Einträge können sie nicht sein.« Dann konzentrierte sie sich wieder auf das Telefonat mit ihrem alten Freund Marian. »Steffi findet es auch in Ordnung? Ich soll mir nicht so viele Sorgen machen? Gib sie mir doch mal bitte, das soll sie mir selbst sagen.«

Als Clara auf dem Weg zum Willemslager war, stellte sich ihr Lea in den Weg.

»Du bist die Letzte, die ich noch fragen kann«, sagte sie mit flehendem Blick. »Ich will lieber zu den Willems. Möchtest du mit mir tauschen?«

Überrascht trat Clara einen Schritt zurück.

»Ich weiß nicht«, stotterte sie verwirrt. Schnell wog sie die Vor- und Nachteile ab.

»Okay, ich mach es«, entschied sie spontan. »Ich gehe zu den Bischofs.«

»Super«, erleichtert wandte Lea sich ab und lief zum Willemslager.

»Na, da wird sich meine Mama ja freuen«, murmelte Clara schmunzelnd und marschierte zum Bischoflager.

Vor dem Lager begrüßten sie die neuen Bischofs verwundert.

»Ich habe mit Lea getauscht«, klärte Clara schnell auf.

»Wow, wie cool«, rief Franziska und umarmte Clara. Auch Emma lief fröhlich zu ihr und drückte sie überschwänglich.

Vincent Pauls, der ehemalige Anführer, trat aus dem Lager und musterte die Kleinen vor sich abschätzend.

»Kommt rein«, sagte er schließlich grinsend. »Jeder sucht sich bitte einen Platz. Habt ihr schon einen Anführer gewählt? Der sitzt normalerweise hier am Kopf. Ihr könnt es aber auch gerne anders machen. Ich weise euch jetzt ein, aber es liegt in eurer Hand, wie ihr das Bandenleben gestaltet.«

Ein letztes Mal ließ sich Vincent auf seinem Stuhl nieder.

»Nein, wir haben noch nicht gewählt«, meinte David, wobei er Vincent genau beobachtete.

Vincent griff in seinen Rucksack und zog die Bischofbücher heraus.

Er hörte, wie die Kleinen aufgeregt die Luft anhielten und jeder seiner Bewegungen folgten.

Er berichtete von seinen Erfahrungen als Anführer, von verschiedenen Begegnungen mit den Willems. Und er erzählte von den Gesetzen der Banden, die in dem Buch der Bischofs standen, und was man in die Chronik eintragen sollte und durfte.

Schließlich erhob er sich und blickte ein letztes Mal durch das Lager.

»Mit dem Anführer muss ich dann noch mal allein sprechen. Wer auch immer es von euch wird, meldet sich dann bei mir«, sagte er noch abschließend, legte den Schlüssel auf den Tisch und verließ dann das Lager.

»Dein Onkel ist richtig cool«, stellte Niklas begeistert fest.

»Ja, oder?«, meinte Emma lächelnd. »Ich habe bisher immer nur zugehört, wenn er von seiner Zeit in der Bischofbande erzählt hat, aber nun bin ich selbst eine Bischof. Ich kann es noch immer nicht glauben.«

»Wollen wir jetzt zur Wahl kommen?«, warf Niklas ungeduldig ein.

»Ich habe mir schon Gedanken darüber gemacht, wie sie ablaufen könnte«, sagte Till und holte sechs kleine Zettel und Stifte und eine Tupperdose ohne Deckel aus seiner Tasche.

»Jeder schreibt hier den Namen, von demjenigen drauf, den er sich als Anführer vorstellen kann. Franzi und ich zählen die Stimmen dann aus.«

Da niemand einen Einwand erhob, verteilte er die Zettel.

»Wer stellt sich zur Wahl?«, fragte er dann und blickte in die Runde.

David, Niklas und Clara hoben ihre rechte Hand, und Till schrieb die Namen auf ein Blatt.

»Ich eröffne hiermit die Wahl. Ihr schreibt jetzt den Namen eures Favoriten auf den Zettel, faltet ihn und werft ihn hier in diese Tupperdose.«

Jeder notierte einen Namen auf seinen Zettel. Die meisten der Kinder waren bedacht darauf, dass niemand sehen konnte, was sie schrieben. Schließlich war es eine geheime Wahl.

Dann warf jeder sein gefaltetes Papier in die Plastikdose.

»Wie wollen wir jetzt weitermachen?«, fragte Franziska neugierig.

»Ich bin dafür, dass jetzt alle rausgehen, während wir die Stimmen zählen«, erwiderte Till. »Das macht es spannender.«

Die Kandidaten erhoben sich und liefen gemeinsam nach draußen.

»Ich stehe nicht zur Wahl, deshalb bleibe ich bei euch«, sagte Emma entschlossen.

Till nickte, während Franziska schon den Inhalt der Dose auf den Tisch ausschüttete.

Gemeinsam öffneten sie die sechs Zettel und sortierten die Namen.

Till schrieb die Anzahl der Stimmen hinter die Namen auf sein Blatt.

»Ich rufe sie wieder rein«, beschloss Emma dann, nachdem sie einen Blick auf das Ergebnis geworfen hatte.

Schnell betraten Clara, David und Niklas wieder die Laube, ließen sich auf den Stühlen nieder und blickten Till ungeduldig an.

»Und, wer hat gewonnen?«, fragte Niklas gespannt.

Till räusperte sich kurz.

»Clara hat zwei Stimmen, Niklas hat zwei Stimmen und David ebenfalls. Die Wahl ist also unentschieden«, teilte er dann mit.

»Son Mist!«, murmelte David. »Wer rechnet denn damit?«

»Und nun?«, fragte Niklas ratlos.

»Ich trete von der Wahl zurück«, beschloss Clara spontan. »Mir ist es nicht wichtig, Anführer zu werden.«

»Na, das ist doch ein Wort«, stellte Till erleichtert fest. »Ich teile jetzt weitere Zettel aus und dann wiederholen wir das Ganze.«

»Niklas hat zwei Stimmen und David hat vier Stimmen erhalten«, las Till wenig später vor. »David ist ab jetzt der Anführer der Bischofbande.«

»Wow, wie krass!«, rief David fröhlich aus. »Ein Bischof ist nach all den Jahren wieder Anführer der Bischofbande!«

»Ja, ganz toll«, murmelte Niklas enttäuscht.

»Kopf hoch!«, versuchte Emma ihn zu trösten. »Wer weiß, wer Anführer der Willems wird. Sei doch froh, dass du dir das nicht antun musst.«

Niklas hob nur resignierend seine Schulter. »Ich werde mich schon mit der Entscheidung abfinden.«

David lehnte sich zufrieden im Anführerstuhl zurück, den er sofort besetzt hatte, und berührte die Chronik der Bischofbande.

»Ich werde jetzt hier das Wahlergebnis eintragen«, sagte er schließlich und strich ehrfürchtig über den Einband. Dann schlug er das Buch auf und blätterte zur nächsten unbeschriebenen Seite.

Er notierte das aktuelle Datum und die Namen der neuen Mitglieder.

»So, fertig«, meinte er dann. »Und jetzt gehen wir die Willemsbande suchen.«

Jubelnd sprangen alle auf und liefen nach draußen.

David griff nach dem Schlüssel, der auf dem Tisch lag, folgte den anderen und schloss zum ersten Mal die Lagertür hinter sich zu.

6. Kapitel

Am nächsten Morgen traf David, der für das sonntägliche gemeinsame Familienfrühstück Brötchen holen musste, beim Bäcker auf Elias. Normalerweise hätte er ihn so früh am Tag ignoriert. Das war für ihn keine Zeit, wo auf er Konflikte aus war.

Heute jedoch war alles anders.

»Hey, Kierdorf«, sagte er, während er hinter ihm in der zum Glück kurzen Schlage stand.

»Was willst du, Bischof?«, fragte Elias verwundert.

»Ich habe Neuigkeiten.«

»Und du meinst, dass mich deine Neuigkeiten interessieren?«

»Diese garantiert.«

»Okay, dann schieß mal los.«

»Benedikt Willem zieht nach Weißwald. Er ist ein echter Willem in direkter Linie und so alt wie wir.«

»Nein!«

»Leider doch.«

»Woher weißt du das?«

David erzählte kurz, was er wusste. Wie immer war er sich bewusst, dass alle Leute in der Schlange und die Verkäuferin neugierig ihren Worten lauschten. Seine Neuigkeit würde heute wohl noch die Runde machen.

»Mist«, zischte Elias erzürnt. »Das kann ziemlichen Ärger für mich bedeuten. Was ist, wenn er auf meinen Posten aus ist?«

»Also ich will jetzt nicht in deiner Haut stecken«, stimmte David zu, während er kurz an die Platzwunde an seiner Schläfe fasste. »Kämpfen kann er jedenfalls.«

»Du hast ihn schon herausgefordert?«, fragte Elias lachend.

»Klar. Der sollte gleich wissen, wo es langgeht. Und vor allen Dingen hat er nicht meinen Bischofmädchen hinterherzulaufen.«

»Oh, sag bloß ...«

»Ja, Clara hat sich schon mit ihm getroffen. Ein weiteres Treffen zwischen den beiden muss ich jedenfalls direkt unterbinden.«

Elias bemerkte, dass er inzwischen der Erste in der Schlange war und die Verkäuferin ihn fröhlich anschaute.

»Na, junger Mann, was darf es sein?«

Nach einigem Suchen hatte Benedikt das Grab seines Ururgroßvaters auf dem Friedhof gefunden. Nachdenklich betrachtete er den unauffälligen grauen Grabstein.

 Karl Willem, geboren 30.08.1898, gestorben 11.09.1962 geliebt und unvergessen.

Frisch gepflanzte und gegossene Stiefmütterchen bedeckten das Grab.

»Das, was du erschaffen hast, ist einfach unglaublich«, murmelte er leise. »Eine ganze Stadt hat dich nach deinem Tod vor über fünfzig Jahren nicht vergessen. Eigentlich hätte ich mich nicht eingemischt, aber Bischof hat mich herausgefordert. Ich kann nicht anders, ich muss unsere Ehre, unseren Familiennamen, verteidigen. Oh man, wenn Franz Bischof nur ein bisschen so wie sein Ururenkel war, kann ich total verstehen, dass du ihn gehasst hast. Ich schwöre, dass ich der neue Willemsanführer werde und David Bischof in seine Schranken weise.«

Zielstrebig schritt Benedikt danach auf das Willemslager zu. Clara hatte ihm erzählt, dass heute dort ein Treffen stattfinden würde und anhand der sechs Fahrräder, die verteilt an den umliegenden Bäumen lehnten, sah er, dass sie recht gehabt hatte.

Oje, Clara! So gut sie ihm auch gefiel, er würde sich nicht mehr mit ihr treffen können, schließlich gehörte sie zur Bischofbande. Nein, da hatte David recht. Es ging nicht, dass ein Willem eine Bischof mochte.

Er klopfte kurz und kräftig an der Tür und trat dann, ohne abzuwarten ein.

»Hallo«, begrüßte Elias ihn mit ernstem Gesicht, während er sich von seinem Stuhl erhob. »Du bist Benedikt Willem, oder?«

»Du hast schon von mir gehört?«, fragte Ben nicht wirklich überrascht.

»Klar, wir leben hier in einer kleinen Stadt.«

»Bischof hat gepetzt, oder?« Ben schaute sich in der gar nicht so kleinen Laube um und pfiff kurz durch die Zähne. »Nicht schlecht. Hier sieht es wirklich nicht schlecht aus. Ihr pflegt das Erbe sehr gut.«

»Klar, schließlich können wir uns nicht alle paar Jahre ein neues Lager anschaffen. Für das hier haben unsere Vorgänger ziemlich viele Spenden sammeln müssen«, sagte Lea, während sie Benedikt, genau wie alle anderen Willems, neugierig anschaute.

Erst vor wenigen Minuten hatte Elias ihnen prophezeit, dass dieser Junge herkommen und Forderungen stellen würde.

»Kann ich mal die Bücher anschauen?«, fragte Benedikt und trat an den Tisch.

»Dir ist schon klar, dass wir sie nicht jedem zeigen?«, bemerkte Elias trocken, während er zum Schrank ging, nach den Büchern griff und sie vor dem Eindringling hinlegte.

»Ich bin ja auch nicht jeder«, stellte Benedikt im strengen Ton klar.

Vorsichtig öffnete er die Chronik und blätterte sie langsam durch, sich jede Seite genau anschauend. Danach studierte er das Willemsbuch.

Elias ließ ihn während der ganzen Zeit nicht aus den Augen.

Der Rest seiner Bande schien diesen Moment nicht als sonderlich wichtig zu erachten. Sie hatten sich schnell an den fremden Besucher gewöhnt und schon nach kurzer Zeit begannen sie ihre Alltagsgespräche und alberten miteinander herum.

Schließlich schloss Benedikt laut das Willemsbuch.

»Da ich jetzt herziehe, will ich Bandenmitglied werden.«

Erschrocken verstummte jeder im Raum.

»Das geht nicht!«, rief Noah erstaunt. »Wir sind doch schon vollzählig.«

Verdammt, ich wusste es, dachte Elias wütend.

»Er ist der Willem«, murmelte er, sich scheinbar entspannt im Stuhl zurücklehnend. »Deshalb hat er wohl ein Sonderrecht.«

»Du glaubst doch nicht, dass die Bischofbande sieben Willems akzeptiert?«, warf Maximilian ein.

»Nein, das bezweifle ich«, stimmte Elias zu. »Wir müssen eine Lösung finden.«

»Ich will Anführer werden und deshalb fordere ich dich zu einem Kampf raus. Gewinnst du, gehe ich. Gewinne ich, werde ich Anführer.«

So jetzt war es heraus! Elias nickte bedächtig. Genau das hatte er befürchtet. Die kommenden Minuten würden also über seine Zukunft und die Zukunft der Bande entscheiden.

Langsam erhob er sich.

»Lass uns nach draußen gehen.« Er war sich der betroffenen Gesichter seiner Bande mehr als bewusst. Gespannt folgten alle den beiden Jungen.

Wenige Augenblicke später standen sich Benedikt und Elias vor dem Lager gegenüber.

»Es geht nicht gegen dich«, flüsterte Benedikt ihm leise zu. »Bischof ist der Schuldige. Er hat alles provoziert.«

»Ich weiß«, zischte Elias kalt. »Lass es uns hinter uns bringen!«

Die beiden Jungen kämpften eine ganze Weile gegeneinander, und lange sah es nach einem Unentschieden aus, doch irgendwann konnte Benedikt den Kampf für sich entscheiden.

Er saß auf Elias und drückte fest seine Hände auf den Boden.

»Ich habe gewonnen«, sagte er laut. »Sei meine rechte Hand und helf mir dabei, Bischof zu besiegen.«

Wütend und enttäuscht kniff Elias seine Augen zusammen.

»Runter von mir«, knurrte er. »Ich muss darüber erst nachdenken.«

Benedikt sprang auf, reichte Elias seine Hand und zog ihn vom Boden hoch.

Dann wandte er sich an den Rest der Bande, die ihn sprachlos anstarrte.

»Ab jetzt bin ich euer Anführer.«

Irritiert tauschten die Willems untereinander fragende Blicke aus.

Sie wussten nicht, wie sie reagieren sollten. Eigentlich sollten sie doch hinter ihrem alten Anführer stehen, schließlich waren sie ihm mehrere Jahre gefolgt, aber der Sieger, der vor ihnen stand, war der Willem! Der direkte Nachfahre des Bandengründers.

»Ihr habt es gehört«, flüsterte Elias deprimiert. »Ich räume meinen Posten.«

»Aber wir sind trotzdem noch immer sieben«, bemerkte Lea, während sie Benedikt neugierig musterte.

»Ich trete aus und stelle Benedikt meinen Platz zur Verfügung«, beschloss Greta spontan. »Zum Wohle der Bande.«

»Das ist sehr edel von dir.« Benedikt ergriff ihre Hand und schüttelte sie fest. »Vielen Dank.«

[1] Mara und die Bischofbande

Nach oben scrollen